Von der Mausefalle und vielen Schatten

Koffer packen ist immer ein bisschen sterben. Ich hasse das. Überhaupt: Abschied nehmen. Traurig. Traurig. Ich schliesse die Türe. Und schaue nicht zurück. Man sollte im Leben vorwärtsschauen. Immer. Und 890 Kilometer vorwärts ist Innocent, der mich bereits frühmorgens madig gemacht hat: «Irgendwo liegt das Ladegerät zu meinem Computer. Ich glaube, du hast es verhühnert und...»
ICH? WAS SOLL ICH MIT EINEM LADEGERÄT ZU EINEM COMPUTER, DER NOCH DIE MONDLANDUNG ERLEBT HAT. JA HALLO? ICH BIN GELADEN GENUG!
Als er vor einer Woche die Koffer packte, brauchte Innocent einen ganzen Morgen, um die Plastikbürste zu enthaaren und den total abgestumpften Deostift richtig einzurollen. Die Zahnpastatube war so flach wie eine Flunder («DA DRÜCKE ICH NOCH 25 PORTIONEN RAUS!»).
Parallel dazu gab er Anweisungen an unsere Frauen, wie sie den Weihnachtsbaum zu schmücken und die neue Eisenpfanne einzufetten hätten.
«Sì, sì», sagten sie.
Gianni bekam eine Liste, an welchem Plätzchen im wildsauverwüsteten Garten er Fenchel und Kopfsalat anpflanzen soll. Überdies brauche der kleine Feigenbaum eine Wasserleitung, da die Blätter schon bedenklich lampen würden. Und er solle die Geranien nicht einfach wieder ausreissen. Sondern sie düngen und mit ANTILAUS besprühen.
«Sì, sì», sagte auch Gianni.
Es ist hier immer «Sì-sì»-Zeit beim Abschied. Sie machen alle bekümmerte Mienen und wünschen uns fröhlich zum Teufel. Kaum sind wir abgezwitschert, zwitschern auch unsere Hausgeister. Alles bleibt so, wie es ist. Der kleine Feigenbaum kratzt die Kurve («ohhh... er konnte im Schatten der Olivenbäume nicht gedeihen!»). Die Geranien werden braunes verdorrtes Laub («ohhh? sie konnten im Schatten der Palmen nicht mehr erblühen»).
IRGENDWIE WIRFT HIER IRGENDWER IMMER IRGENDWO EINEN SCHATTEN. Gianni deutet es philosophisch: «MOLTO SOLE, MOLTO OMBRA», wo viel Sonne, da viel Schatten...»
Ich schliesse alle diese Mückengittertüren, die mich vor Stichen hätten schützen sollen. Die letzten feuchten Nächte haben die hitzigen Stecher animiert. Und trotz geschlossener Mückentore sehe ich aus wie Kuchen, den sie Streusel nennen.
ALLE TÜREN ZU. Schlüssel wird an den Balken gehängt. Und ab gehts? nordwärts. Rheinwärts. Ins Land, wo die Millionen blühn...
In meinem Gepäck sind die letzten roten Tomaten, eine erste Flasche mit frisch gepresstem, noch etwas bitterem Olivenöl und ein Arm voll Basilikum. Dann natürlich das vorsintflutliche Computer-Ladegerät von Innocent. Es staubte mit 27 leeren Chiantiflaschen im Keller vor sich hin. Als ich ihm nach meinem Fund schadenfroh berichtete, es sei ja nun wohl offensichtlich, wer von uns beiden das hirnlose Huhn sei, ging er gar nicht darauf ein. Im Kasernenton der Sechzigerjahre bellte er in den Hörer: «Bring die leeren Flaschen in den Supermercato retour. Und überweise das Depotgeld auf unser Konto...» Wen wunderts, dass der Himmel heult.
Mein Auto redet auf der ganzen Strecke mit mir. Aber Autos haben ihre eigene Sprache. Es ist wie bei dieser Tagesschau auf Romanisch: viel los. Aber ich kapiere nur Bahnhof. Immer wieder lässt der Wagen auf dem Armaturenbrett neue Signale aufflammen. Komme ich in eine Kurve, stösst es warnende Dingdong-Rufe aus. Und mein fitter Vetter pennt schnarchend daneben. Nicht einmal das ewige Gezeter der Tomtom-Tante mit ihrem «BITTE WENDEN... BITTE WENDEN!» kann Tom wecken. TOM REAGIERT WIE DER VERMIETER AUF DIE GEFALLENEN HYPOTHEKARZINSEN: GAR NICHT.
Okay. Tom ist schwer verunfallt. Das passiert Sportlern immer mal wieder. Und immer öfter. Dieser Fitness-Spargel, der sich täglich stundenlang mit Gewichten abplagt und dank einem effizienten Beintraining Oberschenkel herangetrimmt hat, die in Parma gut und gerne als 5a-Schinken exportiert würden, dieser hoch qualifizierte Trimm-dich-Trottel hat nämlich in der Speisekammer heimlich nach meinem Pistazienpudding gesucht. Langsam tastete er sich im Dunkeln Richtung Eiskasten durch. Ein gellender Schrei hat mich dann von meinem Sudoku hochgerissen. ES WAR KEIN SCHÖNER ANBLICK: An Toms durchtrainierter Zehe hing eine Mausefalle.
Das Ganze war noch ein Abschiedsgruss von Innocent gewesen: «Wollen doch sehen, ob wir diesen fetten Palmenmäusen bis an Weihnachten nicht Meister werden!»
Mit drei Dutzend zündholzschachtelgrossen Dingerchen war er aus dem Dorf aufgekreuzt: «Die verwenden sie auf den Schiffen gegen Ratten!»
Die kleinen Fallen sahen harmlos aus, hatten aber eine dank Federspannung geladene Energie, die jedes Atomkraftwerk in den Schatten stellt. NATÜRLICH WOLLTE ICH KEINE AUF DIESE BRUTALE ART GUILLOTINIERTEN MÄUSE NEBEN MEINEM KOPFSALAT INS NIRWANA SCHICKEN. Also habe ich die Brutalo-Dinger nach der Abfahrt von Innocent entsorgt. BIS AUF EINE. DIE WURDE LEIDER ÜBERSEHEN. NICHT ABER VOM GROSSEN ZEH UNSERES VETTERS.
Das Theater hättet ihr erleben sollen! Der Arzt desinfizierte die Einschlagstellen, wickelte das zarte Fleisch ein wie die Hausfrau den Serviettenknödel. Dazu verfütterte er Schmerztabletten. Der Zeh aber schwoll an. Wir legten Eiswürfel darauf und warfen Tom nochmals eine Ladung Tabletten ein. So liegt er nun apathisch neben mir. Laute Schnarcher lösen leises Gewimmer ab. Dazu die sonore Tomtom-Tante. ICH HABE MIR DIE HEIMKEHR AUCH NETTER VORGESTELLT.

Samstag, 23. Oktober 2010