Von der Kunst des Makramees und «Weltall fünf»

«Ach Kinder, die Kunst!»? das war Milli. Und ihr Flötenton mit dem konstant belehrenden, kulturellen Unterton. Wie alle, die sich mit Kunst umweben, hielt Milli sich für eine Intellektuelle.
Sie trug Grellbunt-Wollenes. Fuhr ein schwarzes Herrenvelo. Und wählte links.
Über Mutters Krimi-Heftchen («Komissar Wilton» und «Jerry Cotton»), über Mammas Trivial-Bücherschrank-Inhalt spöttelte Milli: «Das reinste Horrorkabinett!» Und natürlich hielt sie meinen die Jungfrau besteigenden Vater für einen megamacho Kulturschock.
Unbarmherzig versuchte Milli, die Familie mit ihren handgehäkelten Makramees auf den Geschmack und intellektuell auf Linie zu bringen:
«IN DER KUNST STECKT DIE BEFRIEDIGUNG!», säuselte sie jeweils an Familienfeten, wo sie an Jubilare und andere, die sich nicht wehren konnten, ihr handgeknüpftes Grauen verschenkte.
«DER HATS DOCH INS HIRN GESCHISSEN!», zeigte sich Vater von den kulturellen Bemühungen seiner Schwägerin nicht sonderlich beeindruckt.
Und: «DIE GEHÖRTE MAL RICHTIG DURCHGEZOGEN, DAMIT SIE WEISS, WO DIE BEFRIEDIGUNG WIRKLICH STECKT!»
«HANS!», schrie Mutter auf. «PAS DEVANT LES ENFANTS!»
Spätestens nachdem ich auf die Konfirmation hin von Milli einen grob geklöppelten Teddybären bekommen hatte, taxierte auch ich die Tante als «total durch den Wind». Und nur widerwillig liessen wir uns von Mutter zu dieser Vernissage trommeln, wo in zwei weiss gestrichenen Stübchen Grobmaschiges an und von den Wänden hing. Die Menschen aber legten ihre Stirn vor den Makramee-Gräueln in Falten. Redeten von «unglaublicher Ausdruckskraft im Engmaschigen».
Als dann noch ein Parteikollege von Milli in der damaligen «Arbeiter Zeitung» die geknüpfte Kunst mit der spanischen Revolution gleichsetzte und etwas übertrieben «A Star Is Born» titelte, kündigte meine Mutter das Abo des Blatts.
Milli war jetzt eine «gemachte Intellektuelle», die mindestens jedes zweite Jahr die Welt zu ihren Vernissagen trommelte.
Da Milli und Willi kinderlos blieben, wurden wir aus erbschleicherischen Gründen jeweils zu diesen verdammten Vernissagen geschleppt: «Sie haben immerhin dieses schöne Haus am Rhein. Und Onkel Willi konnte sich einiges auf die Seite legen, da er ja keinen Alkohol trinkt...» Letzterer Schuss ging in Richtung meines armen Vaters, der im Alter die Jungfrau gegen die Flasche eingetauscht hatte. Der aber nahm die Erbsache gelassen: «DER WILLI IST EIN WARMDUSCHER? DER VERMACHT ALLES DEM BLAUEN KREUZ!»
Damit war alles gesagt.
Aber da Milli unsere potenzielle Erbtante war, waren wir dazu verdammt, all ihre geschenkten Makramee-Werke aufzuhängen. Wehe, der «Sturm über Kandersteg» oder die «Spanische Liebe» wären nicht an ihrem Platz gewesen, wenn Milli mit Willi zu Besuch kam. Einmal hatten die beiden uns mit einer Überraschungs-Visite heimgesucht? und natürlich lagen die Gräuel weggesperrt im Estrich. Sie wurden immer nur aufgehängt, wenn Milli ihr Kommen ankündigte.
«DAS WAR EIN KONTROLLBESUCH», heulte Mutter, als die zwei gegangen waren, und die beleidigte Künstlertante spitz bemerkt hatte:
«IHR HABT WOHL MEINE KUNST SCHON VERSCHACHERT, LOTTI?»
Vater aber grinste nur: «DAS ERBE KÖNNEN WIR UNS WOHL AN DEN ARSCH STREICHEN.»
In den Achtzigerjahren entdeckte Milli den Weihnachtsschmuck.
Ich muss zugeben, dass mir ihre geknüpfte Kunst in Verwebung mit dem funkelnden Glaskugelmaterial besser gefiel als die einfache Makramee-Masche. Ich sagte es ihr. Und sie schenkte mir eine Komposition, die sie «WELTALL FÜNF» nannte: viel Fäden. Viel Loch. Und dazwischen immer wieder ein paar Weihnachtskugeln, welche wohl die Planeten darstellen sollten. Sehr nett. Aber nun auch nicht so, dass ich damit die Welt terrorisieren wollte. Deshalb entsorgte ich das Weltall ohne schlechtes Gewissen im Müll.
Und erklärte Milli, als sie in meiner Basler Wohnung danach spähte, ich hätte ihr herrliches Universum in der Römer Bleibe an die Zimmerdecke gehängt.
«IHR SEID NICHT NUR BESCHISSENE KUNSTBANAUSEN? IHR SEID AUCH VERDAMMT SCHLECHTE LÜGNER!», zischte mir das betagte Tantchen zu.
Zwei Monate später fiel sie vom Velo. Der Arzt hatte ihr schon immer einen viel zu hohen Zuckerspiegel diagnostiziert. Doch wie dem auch war? der Laster hinter Milli hatte null Stoppchancen. Und da war dann nicht nur das Velo platt...
UND NUN DIES? da besuche ich in Baden-Baden das Frieder-Burda-Museum. Es ist weniger die Leger-Ausstellung, die mich lockt. SONDERN DER VANILLESTRUDEL. Ihn bekommt man in der Museumscafeteria. Ich will also eben auf diesen gewickelten Kuchen, der auch noch? O GLÜCKSELIGKEIT, O WONNE? mit fein gewürfelten und mit Rosinen vermengten Apfelstückchen gefüllt wurde, zueilen, da sehe ich es: In einer der riesigen Ausstellungshallen hängen geknüpfte Makramee-Arbeiten mit Weihnachtskugeln. Eines der Werke erinnerte mich stark an das abgemüllte «WELTALL FÜNF». Eine Kunsthistorikerin mit Hennahaar, Wolljacke, japanischen Pluderhosen und einem Lederrucksäcklein der edleren Sorte erklärt einer Gruppe von Kunstbeflissenen, dass es sich bei den makrameeligen Werken um die Schöpfungen eines Pariser Künstlers handle, der sich mit diesen weihnachtskugligen Inspirationen einen weltweiten Namen für subtile Spiritual-Kunst geschaffen habe.
Ich weiss nicht, was «Spiritual-Kunst» ist. Aber ich weiss, dass ich Tante Millis Weltall nicht hätte wegwerfen dürfen. In Gedanken bat ich sie um Verzeihung. Und machte mich an den Vanille-Strudel.
DER WAR EIN WAHRES KUNSTWERK SEINER KLASSE!

Samstag, 11. August 2012