Der Wildstrubel ist ein Adelbodner Berg. DAS STRUBBELIGE WAHRZEICHEN DES TOURISTENDORFS. Er sieht aus wie Omis Haarkamm, auf dem eine Koksprise Schnee liegt. Immer weniger Schnee. Klimaveränderung und so.
Ich hocke vor meinem Häuschen. Es regnet. Denn wie schon Onkel Eugen immer gesagt hat: In Adelboden regnet es, auch wenn die Sonne scheint.
Onkel Eugen mochte Adelboden nicht. ER WAR DER MORITZ-TYP. SANKT MORITZ.
Nun pflaume ich also vor der Hütte. Geniesse das Prasseln des Regens. Und freue mich über das Grau, das wie zerzupfte Watte über den Matten aufsteigt.
GUT. ICH BIN DER SCHLECHTWETTERMENSCH.
Schuld daran ist der erwähnte Wildstrubel. Und? NATÜRLICH? mein Vater. Es sind stets die Väter, welche die Schuld dieser Welt tragen.
Wenn ich den Strubel anschaue, würgt auch heute noch ein beklemmendes Gefühl zwischen den Magensäften. MEIN ALTER HAT MICH DREI MAL IN DIESEN EWIGEN SCHNEE GEPRÜGELT. Ihm hats Spass gemacht. IHM schon.
Er war nun mal ein Berg-Freak. BERGOMAN? triffts besser. Die Felsen zogen ihn an wie der Kuhmist die Fliegen. Aber weil er auch ein geselliger Typ war, mussten die andern mitsteigen. So schwitzte es sich für ihn fröhlicher. DIE ANDERN WAREN SEINE FAMILIE.
Tante, Mutter, Vettern, ja selbst die Kembserweg-Omi wurden ans Seil gebunden. Und auf die Gipfel geschleppt. Meine von mir auserwählte Schwester Rose hat heute noch Augenwasser: «DANK IHM HABEN WIR SO ETWAS WIE ABENTEUERLUST ERLEBEN DÜRFEN!» Danke.
Bei mir war fertig mit abenteuerlustig. Ich wäre lieber daheim gehockt. Hätte mir gerne fünf Leberwurstbrote reingezogen. Und dazu Erich Kästners «Emil und die Detektive». Ich war schon als Kind das, was man heute populär-intellektuell nennt.
Vater, politisch gewieft, erpresste mich: «Du willst doch diesen weissen Blazer mit den Goldknöpfen zum Geburtstag?»
«Ja.»
«Ist er nicht ein bisschen gar tuntig? besonders mit diesem Samtkrägelchen...?»
«Nein.»
«Nun gut? dein Vater ist ein toleranter Mensch und trotz seiner sozialistischen Gesinnung sehr liberal? haha!»
Schweigen.
«... aber natürlich ist deine Mutter total gegen weisse Blazer. Und ich könnte ein gutes Wort einlegen. Da müssten wir beide aber zuerst noch einmal über alles sprechen.»
«Wo?»
«AUF DEM WILDSTRUBEL? MORGEN!»
Der Wunsch nach einem weissen Blazer macht Helden. Ich steckte meine ohnehin schon ausgetanzten Ballettfüsse in diese schweren, klobigen und unsagbar drückenden Klötze, die man Bergschuhe nennt. SIE WAREN SCHON OPTISCH DIE REINSTEN KLOTZKOTZBROCKEN.
Dazu: ein Rucksack, in dem die harten Eier in einer Blechdose zu den göttlichen Höhen der Bergwelt geschleppt wurden. Überdies: Tee im Thermos. Und ein Riegel Ovosport. Auch wenn heute die ganze Skimannschaft für Ovosport Reklame macht? MEIN DING WAR DAS NICHT. ICH ZOG SCHOKOLADE PUR VOR. Aber so etwas kam Vater nicht in den Sack!
Das Schlimmste war die Übernachtung auf der Engstligenalp. Heute ist die Alp ja eine Trouvaille für Lang- wie Kurzläufer. Im Sommer muhen dort stets ein paar heitere Kühe herum. Also HEIDI PUR. Damals aber war die Engstligenalp einfach ein düsteres Loch mit einer baufälligen Übernachtungshütte, wo man sich aufs Stroh legte und ringsum gepiekst darauf wartete, dass es endlich vier Uhr werde. SO ÜBERNÄCHTIGT, FOLGTE DER GIPFELSTEIGER DANN DEM, WAS MEIN VATER «RUF DER BERGE» NANNTE.
Zuerst trottete man gottergeben wie die Kuh beim Alpaufzug der grössten Schelle hinterher... dann kam Schutt und Geröll... endlich das, was mein Vater als «die weisse Natur» besang, das aber nichts anderes als ein Schneefeld mit einigen steilen Löchern war. Natürlich fiel ich in ein solches. Da ich am Seil hing, wurde ich nach oben gezogen wie die Taucherglocke. Vater lachte herzlich. Mutter klopfte mir die Weichteile ab: «Nichts gebrochen, Hans!» Und ich überlegte grimmig, wie viele schwule Kinder dieser Welt sich einen weissen Blazer so schwer verdienen mussten...
Auf dem Gipfel endlich waren wir über 3000 Meter und somit alle per Du miteinander. Ich war so fix und foxi, dass ich jedem SIE sagen wollte.
«Du bist doch ein harter Kerl!», versuchte Vater mir das Unmögliche einzureden.
«Es gibt Süssreis zum Nachtessen», sagte Mutter. Immerhin DAS.
Drei Mal hat mich Vater den Berg raufgezogen. Dann zwei Mal über die Kletterwand des Fitzers geschleppt, vier Mal auf die Lohnerhütte und einmal bis zur Hälfte der Blüemlisalp. Es war immer sonnig. Denn natürlich ging sein Spleen nur auf, wenn die Sonne dasselbe tat. Bei Regen miefte er. Da hing er als düstere Wolke daheim herum.
VERSTEHT IHR NUN, WESHALB ICH MICH ÜBER DEN VERREGNETEN SOMMER FREUE! Und dass mein Herz vor Freude hüpft, wenn dunkle Wolken aufziehen?
KEINE PLACKEREI IN GROBKLOTZSCHUHEN! KEIN HARTES EI IM SACK!
Und natürlich ist da auch kein weisser Blazer mehr, in den ich reinpassen würde.
Von der Freude am Regen und dem Ruf der Berge
Samstag, 20. August 2011