Von der Clique und dem Regen

Alice schaute zum Fenster. Es war bereits dunkel. Und es schüttete wie aus vollen Kübeln.
Von weit her schwebten Piccolomelodien ins Krankenzimmer.
Alice lächelte. Ihre Clique würde die kleine Laterne nun zur Hauptpost pfeifen. Dann würden sich alle auf den Heimweg machen? SOFORT. Um eine Runde Schlaf zu tanken. Obwohl schlafen in einer Morgestraichnacht total illusorisch ist.
«Brauchen Sie noch etwas, Frau Schwarz?»? Alice hatte die Krankenschwester aus Indien nicht gehört. Sie war in Gedanken bei ihrem Frauengrüppchen gewesen? einer Pfeiferclique, die auf ihre beste erste Stimme verzichten musste.
Es war vor zwei Jahren, als Alice an einer Marschübung plötzlich zusammensackte. Sie spürte noch, wie sich alles drehte. Dann schnappte sie nach Luft? Lotti, die Obfrau der Clique, alarmierte den Krankenwagen übers iPhone.
Eine Untersuchung hatte dann die Diagnose ­Lungenkrebs ergeben.
Alice hatte nie geraucht. Sie hielt sich ein Leben lang mit Gymnastik fit. Und jetzt das!
«Kann ich an der Fasnacht trotzdem mitpfeifen?», war ihre erste Frage. Der Arzt schaute sie lange an. «Tun Sie alles, wozu sie Lust haben, Frau Schwarz.» Da wusste Alice, was es geschlagen hatte. Das Schlimmste war dann die Rücksichtnahme der andern. Und wie sie Alice heimlich beobachteten. «Willst du nicht eine Runde pausieren», hatten Lotti sie an jener Fasnacht bei jedem Halt gefragt. «Wir schaffen schon mal einen Umgang ohne dich.»
Klar. ABER S I E WOLLTE ES SCHAFFEN.
Und sie hasste es, wenn alle sie wie ein rohes Ei behandelten. Also schaltete sie auf stur? bis man wieder übers iPhone die Ambulanz alarmieren musste.
Nach einem Jahr war sie so dünn und schwach, dass sie kaum mehr gehen konnte. Die Spitex kümmerte sich um sie? und ihre Cliquenfrauen.
Die Clique war immer ihr Leben gewesen. Sie war mit den Mädchen aufgewachsen. Hatte mit ihnen eine Frauengruppe gegründet? weil die Männer keine Weiber im Stammverein wollten.
Sie hatte bei «ihren Mädchen» an Hochzeiten gepfiffen. Und in den Pfeiferstunden deren Pampers-Probleme angehört. «Du siehst doch gut aus, Alice, willst du keine Familie?»? so machten sie die andern Frauen an.
Alice wollte nicht. Die CLIQUE war ihre Familie. Sie war immer da? für alle. Sie organisierte. Sie war das Herz der Gruppe? bis zu jenem Augenblick, als sich alles drehte. Und die Luft wegblieb.
Es kam die nächste Fasnacht. Nach der Marschübung, diesmal ohne sie, hatte ihr die Clique vor dem Haus ein «Ständeli» gebracht. Sie war am Fenster gestanden. Und hatte geweint.
Schliesslich hatte Lotti auf ein Riesenungetüm, das man in Geschenkpapier gewickelt hatte, gezeigt. «Das ist die Überraschung. Wir machen nicht Fasnacht ohne dich!» Die Überraschung war ein Rollstuhl. Drei Luftballons machten ihn etwas fröhlicher.
Vor der Fasnacht hatte sie Fieber. Hohes Fieber. Der Rollstuhl stand ungenutzt in der Wohnung? die Ballons daran waren verwelkt? verwittert, wie ausgetrocknete Mimosen.
Die «Mädchen» brachten wieder ein Ständeli. Am Fasnachtsdienstag. Sie trugen weisse Harlekin. «Sie sind alt geworden», dachte Alice, als alle die Larve vom Kopf gezogen hatten. WIR SIND ALLE ALT GEWORDEN.
Nun lag sie im Spital. Seit drei Monaten schon.
«Im Spital wird alles für Sie getan», hatte der Arzt versprochen.
Die Clique organisierte die Besuche in Zweiergrüppchen. Einmal pro Woche. Alice wartete auf diese Besuche wie auf die Atemmaske, wenn sie wieder einmal einen Anfall hatte.
Lotti, die nun Witwe und kinderlos war, hatte den Heiligen Abend bei ihr im Krankenzimmer verbracht. Eine gute ­Flasche Wein. Lachsbrötchen. Und ein Album mit Erinnerungen.
Es war ein schöner Abend gewesen.
«Hast du Angst vor dem Sterben», hatte Lotti sie gefragt. Alice hatte sie lange angeschaut: «Nein. Nur vor dem Alleine-Sterben.»
Die Clique schickte nun jeden Tag eine Zweierdelegation.
Heute, vor dem Laternenabholen, waren gar alle gekommen. Sie hatten ihr einen Strauss mit Mimosen und roten Nelken gebracht.
«Die Meteo hat Regen gemeldet», knurrte Lotti, «Petrus ist doch kein Basler!»
Alice nahm ihre Hand: «Wenn ich dann mal da oben bin, werde ich ein Wörtchen mit ihm reden?» Der Mimosenduft bereitete ihr Kopfweh. «Könnten Sie die Blumen herausbringen», lächelte Alice nun zur indischen Krankenschwester. Hin und wieder durchbrachen lautes Gelächter und alkoholgeschwängertes Gejohle die Stille der Nacht. Alice konnte nicht schlafen. Sie hatte in einer Morgestraichnacht nie schlafen können. Sie versuchte aus dem Bett zu steigen. Es war halb vier Uhr. Und sie dachte an ihre Frauen, die im «Stadtkeller» zur Mehlsuppe eintrudeln würden.
Es gelang ihr, sich hochzuziehen. Sie hielt ihren heissen Kopf ans eiskalte Fenster? sie sah die Stadt, die fiebrig und doch fast tot vor ihr lag.
Plötzlich war ihr ganz leicht. Sie lächelte. Und hatte ihre Clique vor Augen. Die alten Mädchen würden nun zum grossen Moment einstehen. Wie immer. Jahr für Jahr? seit über einem halben Jahrhundert. Es war das Leben, das mit ­diesem Vier-Uhr-Moment immer ­wieder neu begann? ein Moment, der auch immer ein bisschen das Ende ahnen liess. Von der nahen Kirchturmuhr hörte Alice die vier Schläge. Und dann tauchte sie ein in diese Lawine von Trommelbeben und Piccoloweinen?
Als die Clique um halb fünf Uhr ihren ersten Halt machte, schaute Lotti erstaunt zum Himmel. Er hing voller Sterne.
«Der Regen hat aufgehört?», sagte sie zu den Frauen.

Sonntag, 17. Februar 2013