Von der Ankunft in Havanna und dem frühen Jorge

In Kuba regnets.
Ich habe mir alles irgendwie anders vorgestellt.
Bernsteinfarbene Rumgetränke. Bunt gekleidete Kubanerinnen. Feurige Männer mit dem fidelen Kampfgeist der beseelten Revolutionäre und immer eine dampfende Havanna zwischen den Zähnen. Und Sonne. Vor allem Sonne.
JA DENKSTE. REGEN BEI ANKUNFT. Die nassschwüle Luft wie im Hamam zu Hammamed!
DAZU DIESE SELTSAME KUGEL, DIE AUSSIEHT WIE EIN SCHWARZ GEWORDENES KINDERÜBERRASCHUNGSEI.
Und zu welcher nun der Zollbeamte gähnend nickt: «LOOK AT THAT!»
Sie schiessen mit dem beäugten Plastikbällchen das Bild von dir, das sie von allen einreisenden Touristen haben: «Da ist die Pinke im Anmarsch...» Jorge wartet am Ausgang.
Jorge ist für uns, was Fidel einst für die Kubaner war: DER GROSSE FÜHRUNGSGEIST. Unsere Freundin Ilschen, die schon sechs Mal auf der Insel war und dort einen Salsa-, einen Zigarrendreh- sowie drei kreolische Kochkurse belegt hatte, schwärmte: «ER IST DIE ABSOLUTE BOMBE.
MAN GEHT MIT IHM IMMER FRÜHMORGENS LOS. DA IST ES NOCH NICHT HEISS. EIN MANNSBILD DER GÜTEKLASSE A, SAG ICH EUCH. UND ER SPRICHT BESSER DEUTSCH ALS JEDER SERIENSCHAUSPIELER IN DER LINDENSTRASSE.»
Nun steht da ein kleines Männchen beim Flughafenausgang. Und natürlich habe ich mir unter einem heissen Kubaner etwas anderes vorgestellt als Hasenzähne und zwei Ohren, die an jeder Oscar-Verleihung einen Maskenbildnerpreis gebracht hätten. Aber ich will nicht meckern: Auf Draht ist dieser Frühaufsteh-Jorge bestimmt. Auch jetzt um Mitternacht. Als Erstes will er wissen, ob Blocher die BaZ wirklich habe kaufen wollen. Und zweitens, ob der neue «Braune Mutz» auf die Fasnacht hin bereits geöffnet sei...
JA, DA STAUNT IHR NUN!
Später stellt sich heraus, dass Jorge immer mal wieder in Basel war. Er hält sich täglich mittels einer medizinischen Internetadresse über unser bescheidenes Rheinknie-Leben auf dem Laufenden.
Und er kennt schon jetzt jeden Vers der Striggedde 2011. Man darf ruhig behaupten, Jorge weiss heute über das geschundene Knie von FCB-Spieler Frei besser Bescheid als morgen dessen Physiotherapeut...
Jorge hat in Ostberlin Germanistik studiert.
Und später auch die (damals noch nicht) Gattin des (heute nicht mehr) Bundesrats Leuenberger als frischgebackener Stadtführer in Havanna herumchauffiert.
Nun ist Jorge etwas gealtert, büxt uns aber mit dem Elan des ewigen Kämpfers in eine Blechkiste der Fünfzigerjahre. Wie alle Autos dieser Stadt hat die Schüssel noch nie einen Tropfen «bleifrei» geschluckt.
Ihr Auspuff tönt wie die dritte Revolution. Dabei stösst das knatternde Rostrohr schwarze Rauchschwaden aus, als würden im Blech alle Hoffnungen kremiert.
Jorge fährt uns mit der ganzen Bagage in die Stadt. Gut. Er hätte uns auch auf den Mond fahren können? man konnte eh nichts sehen. Da war nichts von Hildchens versprochenen swingenden Bars und den heissen Tänzchen. Die Regentropfen prasselten wie wild gewordene Trommelnoten auf die Windschutzscheibe.
Und der Scheibenwischer gab schon nach drei Minuten mit einem langsamen Seufzer den Geist auf. Immerhin? nach einer Stunde erreichten wir diesen Platz beim spärlich erhellten Kapitol, wo Jorge uns in einem alten Kolonial-Hotel unterbringen wollte.
«Die nehmen hier sicher kein Trinkgeld», meinte Innocent vorfreudig, als die Kofferträger unsere Bagage aus der Karre wuchteten. «Kuba ist ja noch immer ein sozialistisches Land.»
Ich trat ihn in die Weichteile. Und verteilte lächelnd Dollar-Scheine, wie Ilschen und mein «Kuba in fünf Tagen»-Führer geraten hatten.
Schon wurde ich eines Bessern belehrt: «Bitte nur Euro. Dollars nehmen sie nicht. Da müssen sie beim Wechseln 20 Prozent Strafe draufbezahlen...» Innocent knübelte hoffnungsvoll einen Zweifränkler aus dem Portemonnaie: «Hier guter Mann!»? doch der Kofferträger schaute angewidert auf die harte Währung. Jorge versuchte uns zu trösten: «Das einzige Helvetische, das man hier kennt, sind Nespresso oder Federer...»
DA WIRD ABER FRAU CALMY-REY NOCH EINIGES AN AUFKLÄRUNGSARBEIT ZU TUN HABEN!
Doch alles, was recht ist: Man erwartete uns auch um ein Uhr morgens mit einem Drink, den sie «Margherita» nennen. «Er wurde eigens für Hemmingway entwickelt», prostete uns Jorge mit den ersten Kulturhinweisen zu.
Innocent nahm einen Schluck. Und verzog den Mund. «Der alte Mann hat aber sicher mehr Schnaps drin gehabt...»
Innocent ist und bleibt ein Kulturbanause. Er kann die kostbaren Momente der hochprozentigen Literatur nicht würdigen. Entsprechend gähnt er bereits. «Ich will jetzt in mein Zimmer und in die Heia. Ich bin immerhin seit 18 Stunden im Flug und fast so alt wie euer Fidel!» Na ja? nur weniger fidel. Beim Durchsuchen des Betts geht das Theater schon los: «UND WO BITTE SOLL ICH HIER MEINEN APNÖAPPARAT EINSTECKEN?»
Tatsächlich war da nur ein einziger Stecker in der ganzen Stube und der hatte statt eidgenössisch genormter Löcher kubanische Schlitze.
Innocent jammerte drauflos. Da nahm ihm der Zimmerkellner wortlos den Luftapparat mit dem Sauerstoffschlauch aus der Hand. Und verschwand für dreieinhalb Stunden. Es war kurz vor dem ersten Hahnenschrei, als er strahlend wieder auftauchte. An den Schweizer Stecker hatte er etwas draufgelötet, das wie ein Dreimeterkunststoffseil mit zwei kupfrigen Fühlern aussah.
Er steckte die Sache in die Elektrodose. Und siehe da? der Apnöapparat setzte sich in Bewegung und hauchte zum ersten Mal seit seiner Erschaffung kubanische Luft vom Schlauch.
ICH MEINE? DAS MUSS ZUERST MAL EINER NACHMACHEN.
Innocent umarmte den Zimmerkellner mit Tränen in den Augen. Er nannte ihn «mein wunderbarer Lebensretter» und versprach ihm zur Belohnung einen Schokoriegel aus der Schweiz. Glücklich sank er aufs Bett, als das Hoteltelefon schellte.
Es war Jorge, der uns Havanna bei Tagesanbruch zeigen wollte. Hildchen hatte recht gehabt: Jorge ist eine frühe Bombe!

Samstag, 19. Februar 2011