Das Unschöne: Istanbul ist eine Achterbahn. Ein ewiges Rauf und Runter. 10 000 Stufen in nur zwei Stunden. Abends bist du knochenfertig. Nach dem Stufentag denkt keiner mehr an Bauchtanz- oder Wasserpfeifenorgien? DU DENKST NUR NOCH AN EINES: FUSSBAD. UND AB IN DIE FEDERN!
Das Schöne an Istanbul ist dann aber, dass du gegen deine schrecklichen Beinschmerzen, die vom Hintern bis zum Rücken wie ein wildes, fauchendes Tier hochkriechen, sofort Hilfe bekommst.
Jeder dritte Laden im Herzen der Bosporus-Stadt ist eine Apotheke. Meistens ist es ein Gemischtwarenbetrieb, der neben weissen, zuckergepuderten Lokum-Sorten, rosenduftenden Seifen, getrockneten Teeblättern und Viagra-Ersatztabletten auch Medikamente der harten Art anbietet. Dies alles ohne Rezeptnachfrage. Aber mit freundlichem Lächeln und Einfühlungsvermögen.
Leider ist mein Türkisch sehr rudimentär. Um ehrlich zu sein: es ist ZERO!
Also versuche ich es auf Englisch. Und da ist beim Viagra-Lokum-Seifen-Apotheker leider auch Zero.
Also zeige ich auf mein Steissbein, mache «Aua... aua... aua». Und der Mann in der weissen Schürze begreift schnell: Er greift zu einer Tube. Aber bei deren Inhalt handelt es sich um eine Gleitcreme.
DAS DANN DOCH NICHT!
Ich tätschle ihm kichernd die Hand. Schüttle heftig den Kopf. Sage nochmals «Aua... aua... aua». Und nun liegt eine Sechser-Packung Kondome, Marke GÜLLÜKÜR vor mir.
«Aua!»
Gottlob sehe ich im Regal das Schächtelchen mit Voltaren 100. Dessen Pillen hat sich mein lieber Vater am Ende seiner Rückenleidensgeschichte aufs Butterbrot gestreut. Und so reingepfiffen.
Ich zeige aufs Regal. Und der nette Apotheker ist enttäuscht, weil er nicht die richtige Nase hatte. Er gibt mir die ganze Packung für den Preis einer halben Rosenseife. Was ich damit sagen will: DIE SAUBERKEIT KOSTET MEHR ALS DER SCHMERZ! Das ist nicht etwa ein türkisches Sprichwort. Das ist persönliche Poesie im Delirium nach einer dreifachen 100er-Dosis.
Mustafa hat mir das hohe Lied der Fischer von der Galatabrücke gesungen.
Mustafas Herz schlägt immer noch ein bisschen für Basel. Er hat 20 Jahre dort gearbeitet. Und im Universitätsspital die grossen Kochpfannen geputzt («Die sind so gross, da kannst du als kleiner Türkenmann reinsteigen und die 15-Minuten-Pause drin verpennen!»)
An seinen freien Tagen hat er zusammen mit Esme seiner Frau an einem Elsässer Karpfenteich geangelt. Das Geblubber und die ewig schmatzenden Karpfen am dunklen Wasser wurden ihm dann zu eintönig? also beschloss er die Angel von der Mittleren Brücke auszuwerfen.
So etwas tat er keine 20 Minuten. Ein Polizist klopfte ihm auf die Schulter. Und verkündete ziemlich rüde, er solle gefälligst diesen Scheiss lassen. Man sei hier nicht am Nil (der Polizist eierte in der Flussgeografie unserer Welt ein bisschen arg schräg herum). Und im Übrigen habe es eh keine Fische im Bach. Nur Rheinschwimmer. Oder das Feuerwehrboot.
Es ging Mustafa auch gar nicht um die Fische. Er wollte einfach nur ins Wasser stieren. Und ein bisschen von zu Hause träumen. Wenn seine Frau neben ihm dann noch jede Stunde das Teegläschen auffüllte, war Mustafa zufrieden. Da brauchte kein Hecht anzubeissen? und auch kein Polizist bissig zu werden.
Als er schliesslich die letzte Basler Pfanne ausgekratzt hatte und mit Esme in die Türkei zurückfuhr, um am Bosporus-Ufer einen Kiosk zu eröffnen, der heissen Tee sowie Wasserpfeifen anbot, da besann er sich wieder auf die Fischerei.
Mustafa übergab das Geschäft (das kein grosses war) bald einmal seinem 22-jährigen Sohn Zafer. Er überliess es ihm, künftig das heisse bernsteinfarbene Gebräu in die Gläslein abzufüllen? und an die alten Männer mit ihren gurgelnden Glaspfeifen zu verteilen.
Tag für Tag steht Mustafa nun mit Esme auf der Galatabrücke. Zusammen mit 300 weiteren Fischern wirft er die Angel aus ins pechschwarze Wasser unter ihm. Neben sich haben die beiden ein Becken mit lebenden Sardinen stehen, die sie als Köder benutzen. Dazu: eine Thermosflasche mit Tee. Und ein gut bestücktes Assortiment von Haken, Angelschnüren, Bleigewichten.
Alle Fischer auf der Galatabrücke haben dieselbe Ausrüstung.
Ich stelle mich neben Esme und Mustafa. Unter ihnen ziehen Aussichtsdampfer mit ein paar Touristen als Inventar ihre Bögen. Motorboote rattern vorbei. Und 300 feine Angelschnüre tauchen wie versilberte Spinnenfäden in die teerfarbene Brühe ein.
Tausende von aufgeblasenen Seidenkissen schweben wie ein Geisterballett an der Wasseroberfläche. Es sind Medusen, die in milchglasigen Schleiern tanzen.
ABER ICH SEHE KEINE FISCHE.
Da sind auch keine mit Wasser gefüllten Eimer, die auf den Fang warten...
«Wo ist dein heutiger Fang?»? frage ich also Mustafa.
«WELCHER FANG?»
«Die Fische!»
Er schaut mich gross an? «hier fängt keiner Fische. Hier fischt einer nur in den Erinnerungen seines Lebens!»
Sagts. Schwingt die Rute aus. Und stiert ins Wasser, das ihn an jene Zeit erinnert, als er auf der Mittleren Brücke die Angel ausgeworfen hat...
Ich habe plötzlich wieder Heimweh nach dieser Mittleren Rheinbrücke. Nach dem Münster. Nach Basel.
«Morgen reise ich ab», sage ich zu Mustafa.
Er schaut dem Schleiertanz der Medusen zu. Und gibt keine Antwort.
In Basel habe ich dann meinem Apotheker die Steissbeinschmerz-Symptome geschildert.
«Sie brauchen neue Einlagen für die Schuhe», sagte der.
Von den Fischern auf der Galatabrücke und Mustafa
Dienstag, 2. April 2013