Im Werbeprospekt loben sie die Blumenpracht. Und den sanft blasenden Mistral.
Auch das Essen in Cannes ist in Ordnung. Die Lokale werden als gourmettechnisches Sternemeer besungen. (Aber da wir ja den Chauvinismus der Franzosen kennen, wissen wir, dass so ein französischer Michelin-Stern im eigenen Land nicht viel hergibt.)
Dann redet natürlich alles vom Filmfestival. Davon lebt das Städtchen. Immerhin holen hier die Prominenten ihre Preise ab und reisen dann nach zehn Minuten nicht gleich wieder weg, wie etwa beim Promitreffen in Limmattown. Aber der Zürichsee ist nun mal nicht die Côte und der Filmpreis dort nicht die Goldene Palme. Sondern eben nur ein Augenzwinkern.
Nein. Man muss neidlos gestehen: Cannes ist speziell.
Hier prunkt der Glamour so üppig wie die Blumenrabatten längs der Croisette. Und in den Geschäften mit den Vuitton-Gürteln oder Hermès-Foulards stehen die schlankgehungerten Schönen im Sommer Schlange, um sich im Winter mit dem Dernier cri der Label-Welt zu dekorieren.
Ganz speziell präsentiert sich die Stadt des Filmfestivals dann aber jeweils Ende Oktober. Kaum dass sich die letzten warmen Sonnenstrahlen von diesem Strand, der kaum breiter als ein Lasagneteigblatt hinter den Auspuffen von rotfunkelnden Ferraris liegt, verabschiedet haben, ändert alles.
Aber wirklich alles.
JETZT WIRD CANNES SKURRIL, EINE SZENERIE AUS BIEDERKEIT UND FRIEDHOFSTIMMUNG. Es ist, als hätte ein Radiergummi das junge Leben weggewischt. Plötzlich stehen die Menschen nicht mehr vor den Nobelboutiquen Schlange, sondern vor den Apotheken, wo ihnen weissbeschürzte Pharmazeuten Ampullen gegen Nierenleiden oder Atembeschwerden abgeben. Nun boomen die Geschäfte mit den neusten Rollatoren? und statt für diese Creme, die man sich wert ist, macht eine kroatische Prothesenfirma für ein künstliches Kniegelenk Reklame.
Die Leute vom Ort sind endlich unter sich. Es sind vorwiegend alte Menschen, die junge Hunde spazieren führen.
Die meisten führen neben dem Hund auch noch eine philippinische Billighilfe mit sich. Diese bückt sich dann mit dem Plastiksäcklein nach dem Geschäft, welches der Köter zwischen die Palmen hingepflaumt hat. Das Frauchen aber herzt den entleerten Hund enthusiastisch: «Mon chérie a fait gaga...»? gerade so, als hätte der kleine Kläffer im Hundehürdenrennen die Silbermedaille geholt.
Doch wie gesagt: NUR HORS SAISON.
Denn beginnt erst mal der Festival- und Kongressrummel, werden diese armen Alten sofort wieder von silikonierten Busen und aufgepeppten Arschbacken weggefegt? kleine Hunde sind dann kein Thema mehr. NUR MÖPSE ODER GROSSE TIERE SIND GEFRAGT.
Für die meisten bedeutet Cannes immer wieder: «CARLTON»? eine verzuckerte Beton-Torte mit Luxussuiten, wo schon Bette Davis und Romy Schneider nach dem siebten Gin Fizz Rollschuh gelaufen sind. Das «Carlton» ist in einem andern Jahrhundert für reiche Engländer gebaut worden. Im kleinen Vorgarten haben damals Kellner, die zu vornehm waren, um ein Lächeln zu riskieren, mit weissen Handschuhen goldfunkelnden Tee aus Ceylon und Sablés, dünner noch als die Hostien vom Priester, serviert. HEUTE: RUSSENMAFFIA UND FETTE KAVIARSTULLEN. Und Champagnerkorken, die knallen wie die Feuersalven beim Bandenkrieg.
Mitten in diesem Nachsaisontreiben taucht auch Charles auf. Weiss der Teufel, wohin ihn der Radiergummi während der Hochsaison schickt? jedenfalls ist er dann im Städtchen genauso verschwunden wie die Alten mit ihren Stöcken.
Das Alter von Charles ist nicht auszumachen. Er sieht aus wie 60, könnte aber auch 30 sein. Er trägt einen bodenlangen Wollmantel. Seit Jahren denselben. Er schleppt zwei Koffer, die er laut vor sich hinfluchend herumschleppt und? so sagen die Leute? noch nie abgestellt hat.
Alteingesessene Cannois behaupten, Charles sei schon mit seinen zwei Koffern hier gewesen, als es Onassis noch mit der Callas im «Carlton» krachen liess. Der Kofferträger sei aus seiner helvetischen Heimatstadt Olten ausgezogen, um hier bei der Filmwelt sein Glück zu versuchen. Aber natürlich: NULL CHANCE! Und so sei aus dem Oltner ein Stück Clochardgeschichte der Festival-City geworden.
Kürzlich hat es Charles immerhin in die Tagesnotizen von «Nice Matin» geschafft. Ein Russe, der den Tag mit drei Flaschen Wodka verbracht hatte, soll? so schrieb ein Journalist? dem Koffermann eine 500-Euro-Note zugeworfen haben. Charles aber habe seine Koffer erstmals, seit er in Cannes war, abgestellt. Und das Geld fluchend mit einem Streichholz zu Asche gemacht. Sein Kommentar: Er sei noch immer ein anständiger Schweizer. Und nehme nur sauberes Geld.
Wie gesagt: nur Kurznotiz!
Aber dennoch hatte die Sache mehr Inhalt als mancher der preisgekrönten Filme an den diversen Festivals.
Von Charles aus Cannes und den Koffern
Samstag, 29. Oktober 2011