Von ausgesetzten Hunden und Lara

Immer wenn sich der Mond als milchige Kugel über den Palmen der kleinen Insel zeigt, heult der Hund. Von Schlaf keine Rede!
Die dunkle Stille, die sich in den winterlichen Monaten schon früh über die Küste legt, wird nur durch das unheimliche Hundegeheul gestört, ein hysterisches Kläffen, das jaulend in einem hohen Wimmern endet.
Auf der Insel werden immer wieder Hunde ausgesetzt. Die Tiere, meistens verspielte Welpen, kommen zu Beginn der Sommersaison auf der Insel an. Es sind die lebendigen Spielzeuge, die von den Eltern auf dem Wochenmarkt in Porto Santo Stefano für ihre Kinder gekauft werden. Die Hundchen wedeln fröhlich in Holzkisten, welche die Händler mit Papierschnitzel aus alten Zeitungen ausgelegt haben. Sie schauen mit grossen Augen in eine Welt, deren Grausamkeit sie nicht kennen. Und die Kinder schauen mit ebensolchen unschuldigen Augen in die Holzkisten. Bettelnd bedrängen sie die Alten, sie mögen ihnen doch so einen Canino zum Liebhaben kaufen.
WER KANN IN ITALIEN EINEM KIND SCHON ETWAS ABSCHLAGEN?!
Also kommt das wedelnde Spielzeug in die Kinderhände. Der Kauf ist gespickt mit Ermahnungen: «Es ist eine grosse Verantwortung... man muss jeden Tag mit ihm spazieren gehen...» Und «ja, ja» jubeln die Kinder. Drücken das Fellbündel an sich. Und haben es in drei Monaten bereits vergessen? dann, wenn die Familie die Koffer packt. Und für einen Moment ein schlechtes Gewissen aufflammt: «In der Stadt wäre es schrecklich für den Hund... er wird sich durchschlagen... es hat ja auch wilde Katzen hier.»
Stimmt. Auch die Katzen wurden auf dem Markt in Kistchen angeboten. Aber Katzen schlagen sich in den dornigen Büschen, wo es von Mäusen, Ratten und Schlangen wimmelt, besser durch. Katzen sind Kämpfernaturen? und verschenken ihre Sympathien sparsam und klar berechnend. Aber verlassene Welpen?? DAS WAHRE HUNDELEBEN!
Die Tiere magern ab. Die Knochen stehen ihnen bald aus dem struppigen Fell. Schon werden die Junghunde von den ersten Möwen attackiert? die langschnabligen Vögel, dackelgross und nicht umsonst die Ratten der Lüfte genannt, werden zu Geiern. Und tragen schliesslich das tote Hundefleisch aufs Meer hinaus.
Es war an einem Ferragosto, als Lara den winzigen Welpen bekam. Natürlich mit den üblichen Ermahnungen. Aber Lara war ein stilles, vernünftiges Kind? ein Kind aus reichem Haus, wo man biologisches Olivenöl mit dem lächelnden Sonnen-Label umweltschonend produzierte. Der Betrieb verlangte alle Aufmerksamkeit der Eltern, damit das Sonnenlogo auch weiter lachen konnte. Die Mutter hielt Vorträge und hatte sich mit ihrem Buch «GESUNDES ESSEN? GESUNDE WELT!» in Norditalien einen Namen gemacht. Der Vater versuchte, die Ölproduktion Jahr um Jahr zu steigern. Er kaufte immer mehr Land im südlichen Teil der Maremma. Hier liess er junge, silberblättrige Bäume auf Hügeln anpflanzen. Hunderte. Tausende. Alles in allem also: eine gesunde, glückliche Familie? auch wenn das Kind manchmal heftige Atembeschwerden zeigte, ein Übel, das vom Hausarzt als «präpupertäre Asthmastörung» diagnostiziert wurde. Und sich alles spätestens mit dem Eintreffen der ersten Menstruation legen würde.
Da die Mutter mit ihrer Schreiberei sowie den Predigten für eine gesunde Welt rund um die Uhr und der Vater wegen der Überwachung der vielen biologischen Ölmühlen ebenfalls pausenlos beschäftigt waren, blieb ihnen für das Töchterchen nicht viel Zeit. Umso mehr hängte Lara ihr Herz an «Lupetto», diesen verspielten Bastard, der keine Sekunde und nicht einen Schritt von seiner kleinen Freundin wich.
Es wurden wundervolle Wochen für die beiden. Sie tollten am Strand, spazierten auf den steinigen Wegen, wo die Kakteen ihre ersten Früchte zeigten. Und als dann die Koffer gepackt wurden, war die Katastrophe programmiert: LUPETTO MUSSTE ZURÜCKBLEIBEN.
Vater und Mutter redeten auf das Mädchen ein? beide leicht genervt, weil Lara erstmals Geschichten machte und sich störrisch zeigte. Das Kind wollte Lupetto nach Florenz mitnehmen. Aber das Gesicht der Alten zeigte nicht mehr das fröhliche Sonnenscheinlabel, sondern ein hartes, verbissenes «NO!».
Auf der Insel berichteten die Leute, wie Lupetto dem Range-Rover nachgejagt sei. Das Mädchen habe dem jaulenden Tier weinend nachgeschaut, habe immer wieder gewinkt? der Hund aber habe gemerkt, dass das Spiel aus war. Er blieb plötzlich stehen. Und diesen Jammerlaut, den er von sich gab? so wusste es die alte Cardona: «Also dieses heisere Heulen kann ein irdisches Wesen nie mehr vergessen.» Da weinte die ganze Traurigkeit unserer Welt aus einem Hundeherzen.
Nächtelang hat Lupetto vor dem Ferienhaus des Ölindustriellen geheult. Sein Kläffen und Weinen hielt die wenigen Menschen wach, die noch in ihren Villen geblieben waren. So auch den Nachbarn des Ölhändlers, einen Lederfabrikanten aus Mailand. Schliesslich forderte der seinen Gärtner auf, den nervigen Köter abzuknallen. EXITUS-KOMMANDO ALSO!
Lupetto wurde mit einem einzigen Schuss bei Vollmond hingerichtet. Der Kaufmann mit den Ledertaschen war zufrieden? aber nicht lange. Kaum dass wieder der runde Mond seinen milchigen Schein über die Palmen warf, hörte man das unheimliche Heulen erneut. Pausenlos.
Die Frauen bekreuzigen sich nun, wenn sie am Haus des Geisterhundes vorbeigehen. Und bis heute vernimmt man dort in den Nächten, in denen das Meer das Silber des Mondes widerspiegelt, dieses Wimmern einer verlorenen Hundeseele.
Als im Sommer darauf der Ölfabrikant mit seiner Frau auf der Insel erschien, äugten die Insulaner vergebens nach Lara. Bald wurde bekannt, dass das arme Mädchen an einem Asthmaanfall erstickt sei? in einer Vollmondnacht. Es sei die Nacht gewesen, als Lupetto erschossen wurde. So sagen sie zumindest. Ob es wahr ist, weiss ich nicht? Tatsache ist, dass sich das Elternpaar gefasst zeigte und die Ölproduktion weiter gesteigert wird.

Samstag, 5. November 2011