Von Alassio einst und heute

Alassio ist Kindheit.
Das kam so: Mutter hatte die Nase voll von den Bergen. Immer die Fliegen vom Kuhmist direkt auf der Torte! Na ja? sie war fürs Land nicht geschaffen. Und schob mich vor: «Das Kind muss ans Meer. Die Berge machen es depressiv.»
«DER IST SO LABIL WIE EIN NILPFERD!»? wieherte der Erzeuger des schönen Knaben fröhlich. Er hatte das Feingefühl einer Leichenhalle. Und übersah stoisch, dass ich Zuckerwatte leckte und Puppenkleider nähte.
Aber natürlich hatte Vati nichts zu melden. Die Mutti war die mit der Knete. UND KNETE HATTE SCHON DAMALS SEGEN UND SAGEN. Wenns mit dem Dreisatz auch haperte? aber SO ETWAS hatte das Kind raus. «Ich will nach Alassio», flüsterte ich der Frau mit dem Bankkonto zu. Und machte ihr ein Kompliment für den neuen Hut, der wie ein gemähtes Kornfeld auf Nylonbasis aussah. Mutter beäugte den Sohn misstrauisch: «Weshalb Alassio?! Was ist da faul?» Ich blinzelte mit diesen grossen Augen, mit denen ich später trotz Fehlgebrauch von Akkusativen auch die Schlussprüfung der Journalistenschule geschafft habe: «Das Nelly Blickensdorfer hat gesagt, Alassio sei unglaublich schick!»
Da das Nelly Blickensdorfer in einer eleganteren Wohnung thronte als die Trämlers & Co. und der Gatte sein Geld als Prokurist und nicht als Schellentramper verdiente, war die Nachbarin so etwas wie der IN- und OUT-Seismograf der Colmarerstrasse. Sie ass die ersten Schnecken, die nach Hartgummi in Kräuterbuttertunke schmeckten. Dazu benutzte Frau Nelly ein kleines Pfännchen, in dem es um die Häuslein der armen Tiere brutzelte, als sei inmitten der Sauce ein Tsunami ausgebrochen. Die Häuser wurden mit einer Zange festgehalten und die Schnecke mit einem Zweizahngäbelchen rausgepult. UND NATÜRLICH PULTE AM TAG NACH DER SCHNECKENPREMIERE VON FRAU NELLY DAS GANZE QUARTIER. Wie gesagt: eine klare Trendsetterin und dies nicht nur in Sachen Schnecken. Mutter also. «Die Blickensdorfer hat das gesagt?... Schick?... Na dann.» Sie weckte den Schellentramper, der sich auf der Couch durchs Mittagschläfchen rüsselte: «Wir werden nach Alassio fahren, Hans! Und wenn du mir jetzt wieder mit dem Vorschlag vom Dreierzelt kommst, würze ich dir die Spiegeleier mit Arsen.»
DAS WOLLTE ER NICHT. Und so wurde es ein Monat in Alassio und zwar in einer «PENSIONE», wo sie die Ritiratta auf dem Korridor hatten und es noch voller Fliegen war, als in Adelboden auf der Torte? Ihr wisst, was ich meine...
Da ich aber ein Kind mit sehr hellen Augen und wunderbar feinem Blondhaar war, wurden es dennoch herrliche Ferien. Ich stand vor dem Gelato-Männchen und stierte auf die regenbogenfarbenen Eissorten wie Berlusconi auf die Titten seiner Bunga-Bunga-Weiber. Spätestens nach fünf Minuten wurde ich von irgendwelchen italienischen Mammas oder lustigen Opis betätschelt. «Bellisimo?! Vorresti un gelato...?!»
Natürlich wusste ich, dass mich keine fremden Erwachsenen ansprechen oder gar betatschen sollten, ABER SO ETWAS STAND NUN WIRKLICH IM HINTERGRUND, WENN IM VORDERGRUND VANILLE-MOKKA LOCKTE.
Jedenfalls kam ich leicht übersüsst wieder in die Schweiz zurück. Und als meine Mutter im Konsumverein knapp, aber voller Effizienz beim Kauf von zwei Maggi-Fläschlein den Satz «WIR WAREN IN ALASSIO!» fallen liess, hob die Blickensdorfer nur kurz die Braue: «Ach ja, ist der Ort so kommun geworden?» DANN WAR KRIEG FÜR IMMER.
Ein halbes Jahrhundert später war es Innocent, der mir Alassio heiss machen wollte: «Die haben hier einen ligurischen Weisswein... einen Tropfen, als hätten ihn die Engelein direkt auf Erden gepisst und...!» Mir waren die pissenden Engelein so etwas von wurst. Aber Vanille-Mokka ist noch immer nach meinem Geschmack? und deshalb war Alassio o.k. Leider pisste dann nicht der Weisswein, sondern das Badezimmer im oberen Stock unseres Hotels. Und so hatten wir die Niagarafälle direkt auf unsere Koffer? UND MEIN SCHÖNER MISSONI-PULLOVER NUR NOCH EINE HANDVOLL PUTZFÄDEN!
Ich war von Anfang an gegen ein Hotel, das sich ADELASIA nennt. Aber Innocent meinte, das sei die Dorfheilige vom Ort und da könne man auf Nummer sicher gehen. Nummer sicher sah dann so aus: ein Zimmer nicht grösser als ein Wäschekorb, die Heilige Mutter über und eine Armee von schiefergrauen Kellerasseln unter dem Bett. Da man weiss, dass so etwas nur in feuchten Kellern vorkommt, kann man sich vorstellen, wie tief wir gesunken sind! Ich natürlich: ZETERMORDIO. Und ab ins Grandhotel! Die American Express Card hatte die Limite noch nicht erreicht.
Nach zwei Nächten mit den Asseln und etwas Schimmel auf dem Apnoe-Apparat zog Innocent reumütig nach: «Und hier hast du mit deiner lieben Mamma also schöne Kindheitstage verlebt...?» Ich verschwieg ihm vornehm den damaligen Fliegenabtritt auf dem Korridor und machte ihn auf einen Gelato-Wagen aufmerksam: «Bereits als Zehnjähriger wurde ich mit Vanille-Mokka ausgehalten...»
Später habe ichs am Gelato-Stand noch einmal ausprobiert. Ich klapperte mit den Wimpern und stierte auf die verschiedenen Eissorten. Sie heissen jetzt NUTELLA. Und SMARTY. Das 190-Pfund-Kind klapperte zehn Minuten. Doch da kam niemand und wollte eine NUTELLA/YOGHURT spendieren. Schliesslich schaute mich der Eisverkäufer schief an: «Wenn Sie zuckerkrank sind, ziehen Sie besser Leine...» Da haben die schönen, grossen Augen aber gar bitterlich geweint...

Samstag, 22. Oktober 2011