Der Herbst hat die letzten Touristen von der Insel weggespült. Die Reichen haben den Yachthafen verlassen. Männer mit scheppernden Eimern und zischenden Hochdruckdüsen putzen auf den Millionenbooten hinter den Herrschaften her. Die Rentner schauen mit ihren erloschenen Toscani in den schiefen Mundwinkeln zu. Sie taxieren stumm jedes Schiff, das da mit dem Kran aus dem Hafen hochgewuchtet und auf den Transporter abgeladen wird: «... un millione... tre millioni...»
Und dann begrüssen sie Carlo und Frederico, die beiden fetten Polizisten, unter deren Tonnengewicht das Vespablech fast Bodenberührung hat. Es ist Hochbetrieb für die zwei Gesetzeshüter. Ansonsten sind sie nur für die Parkbussen vor der Chiesa und die Absperrung dort bei einer Hochzeit verantwortlich. Nun fahren sie wie der Vortrab einer grossen Fasnachtsclique dem Yachttransport vor und künden so Grosses an.
ANSONSTEN? TOTE HOSE IM ORT.
Die beiden Bäcker sind in den Ferien. Einer mag dem andern die Kundschaft nicht gönnen. So schliessen sie synchron ihre Geschäfte, sodass wir 30 Minuten Schifffahrt auf uns nehmen müssen, um die «cornetti» und «panini» auf dem Festland zu kaufen. Tausend Mal schon hat die Kommune offiziell die beiden ermahnt, ihre Ferien getrennt zu nehmen. Das Ganze sei eine Zumutung für die ganze Insel! WIRKUNG GLEICH NULL!
Überhaupt scheint sich nun alles nach dem Touristenstress und vor dem grossen Olivenpflücken im November zu erholen. Selbst Luigi, der Metzger, dessen Vater sich (nachdem der erste Supermercato des Ortes die Vitellone-Schnitzel in Folie eingeschweisst und 30 Prozent billiger im Angebot führte), vor Gram am Fleischerhaken aufgeknüpft hatte? selbst Luigi also hockt jetzt im Lokalblatt blätternd vor seiner Ladentüre, die nun wieder eine richtige Holztüre mit Griff geworden ist. Während der heissen Monate hatten an ihrer Stelle lustigbunte Plastikbändel die Fliegen abgehalten. NUN HERRSCHT WIEDER EISERNE WINTERORDNUNG. MIT DEN PREISEN, DIE DEM MONATLICHEN 1100-EURO-EINKOMMEN DES DORFPOLIZISTEN UND NICHT DEN YACHTMILLIONÄREN ANGEPASST SIND.
Luigi schaut von seinem «TIRRENO» auf, klopft auf ein Bild der ersten Seite und ruft Luisa, seine Frau: «Der Zirkus kommt? hol die schwarze Fahne!»
Drei Stunden später ist unser Hafenort geschmückt wie die Witwe am Funerale? überall flattern schwarze Tücher und Schleier. Die blauweissen Ortsflaggen sind auf Halbmast gesetzt. Und statt der heiseren Rocktrine Gianna hört man das Ave Maria des blinden Tenors aus den Küchenradios.
IMMER, WENN DER ZIRKUS IN DEN ORT KOMMT, KOMMT AUCH WIEDER DIE TRAUER ZURÜCK.
Es war vor 27 Jahren, als das kleine Wanderunternehmen «La Farfalla» sein hohes Trapezgerüst und die 50 Plastikstühle auf der Lagunenwiese aufstellte. «La Farfalla» konnte sich kein Zelt leisten? bot aber eine der gewagtesten Luftnummern des Landes: Luca, der Sohn des Unternehmens, schwang sich hoch oben über die Köpfe der Leute. Er flog von einer Trapezstange zur andern. Die Trommeln erhöhten die Spannung vor jedem Salto. Und weil es weder Netz noch doppelten Boden gab, hielten die Frauen den Atem an? und sie taten dies auch, wenn Luca durchs Dorf ging, um Propagandazettel zu verkaufen. ER WAR EIN BILD VON MANN MIT MUSKELN WIE GANZE PARMASCHINKEN UND DIESER SATTEN HOSE, DIE NICHTS VERBARG.
Lida, die Tochter des Bürgermeisters, war es dann, die sich unsterblich in den Artisten verliebte. Es war eine Romeo-und-Julia-Geschichte am Hafen? der Bürgermeister tobte und verbot dem Zirkus, je wieder in die Gegend zu kommen, wenn dieser gelackte Freiluftgaukler nicht seine stinkigen Pfoten von seiner Tochter lasse.
Lida heulte das Meer voll. Luca zeigte männlich die Faust. Da meldete der Bürgermeister in seiner Not das Mädchen ins Kloster der barmherzigen Schwestern an.
Und eben an jenem Oktoberabend war es dann, als die Trommelwirbel noch heisser vibrierten und der Vollmond sich hinter einer dicken, schwarzen Herbstgewitterwolke versteckte: Luca erschien wie ein Gott in der Scheinwerferkugel? an seiner Seite Lida. Sie trugen perlenbestickte, teerschwarze Trikots? langsam erklommen sie die Freilichtkuppel, stiegen immer höher und höher, ja bis fast zu den Sternen. Die Menschen hielten den Atem an. Sie spürten, dass hier ganz grosse Ortsgeschichte geschrieben würde.
Nun dröhnten die Trommelwirbel in allen Ohren und? «tus nicht!», schrie die Mutter von Lida. Zu spät.
Die Leute wichen entsetzt zurück. Und als man eine halbe Stunde nach dem Todessprung die beiden wegtrug, waren ihre Hände noch immer miteinander verbunden.
Seit jenem Jahr weht im Hafenort immer ein Schleier voller Trauer, wenn sich ein Zirkus ankündigt. Und die Artisten werden mit Respekt, aber mit schwarzen Binden am Arm willkommen geheissen.
Ok. Natürlich braucht ihr diese Geschichte nicht zu glauben. Aber kommt selber einmal in diesen Tagen des Herbstes hierher, wenn die Sonne vergebens versucht, die eisigen Hände der ältesten Dorfweiber zu erwärmen. Das Meer trägt abends bereits die Farbe der schwarzen Nonnenröcke. Ihr werdet diese Trauer des verlorenen Glücks spüren. Und über euren Gesichtern werden die ersten Regentropfen des Winters kullern, Regentropfen, die sich warm wie Tränen anfühlen.
Vom Zirkus auf der Insel und Herbsttrauer
Samstag, 16. Oktober 2010