Vom Wunder der weinenden Madonna und Syrakus

«Syrakus musst du sehen ? ohne ist nix!» Roberto lebt in Rom. Aber sein Herz hat er auf Sizilien zurückgelassen. Einmal Sizilianer. Immer Sizilianer.
«Die Leute machen sich ein vollkommen falsches Bild von unserer Insel? Mafia mit Marlon Brando als Titelrolle? faule Säcke, die in den Tag reintrödeln? holprige Strassen? und an jeder Ecke ein Gauner, der dich übers Ohr hauen will? DAS SIND CLICHé-STUPIDITÄTEN! Sie haben mit der Realität einfach gar nichts zu tun. ABER NULL UND NIENTE!» ? Das Impulsive der Sizilianer ist Roberto auch in Rom geblieben.
Er echauffiert sich wie eine Herdplatte auf Stufe Grill, wenn es um seine Insel geht: «Das Übel heisst Rom. Und das Miese sind unsere Politiker. Unsere zugesprochenen EU-Gelder fliessen in die Kapitale. Und erreichen die Insel nie. Auf wunderbare Weise lösen sie sich jeweils in Luft auf. Kein Wunder, dass Sizilien ein Eigenleben ent­wickelt hat!»
Roberto klopft mir auf die Schulter: «Reise in meine Heimatstadt Siracusa. Und sage dann selber, ob du so eine Pracht schon irgendwo auf der Welt gesehen hast ? nicht umsonst werden hier auf dem Domplatz die Montalbano-Filme gedreht und?»
JA HIMMEL ? WO DREHEN DIE HIER IN SIZILIEN EIGENTLICH KEINE FILME MIT DEM BULLEN!
Von Ragusa Iblà ist es nur eine gute Stunde nach Syrakus. Aber auch in Siziliens Vorzeige- Touri-Stadt ist die Einfahrt nicht das Gelbe vom Ei. Der Besucher tut gut daran, immer die Wegweiser in Richtung Ortygia im Auge zu behalten. Die führen ihn weg von den modernen Hotel­ketten, den unschönen 70er-Jahre-Bauten und dem Verkehrschaos. Gut. Die kleine Brücke, die nun vom Festland zur Altstadt, der Insel Ortygia führt, ist verstopft wie die Omi nach drei Stück Schokokuchen. ABER DER SCHRITTVERKEHR LOHNT SICH. Denn Ortygia ist wirklich ein Juwel, das Herzstück von «Saraùsa», wie die Einheimischen ihr Syrakus nennen.
Sizilianer finden es am schrecklichsten, wenn ihre Gäste alleine sind. Also organisiert mir Roberto aus Rom einen seiner Freunde. Es ist Emanuele ? ein Fussballreporter in der 120 000-Seelen-Stadt.
«Er war selber ein grosser Fussballstar auf der Insel. Nun kickt er nur noch auf den Tasten rum. Aber du wirst ihn mögen ? er liebt gutes Essen!», so Roberto.
Als ich Emanuele sah, konnte ich mir kaum vorstellen, dass der mal einen Penalty verwandeln konnte. Das Einzige, was aus jener glorreichen Zeit geblieben ist, ist die Rundung des Balls. Die hat sich auf seinen Bauch gesenkt. Und macht ihn rundum sympathisch.
Als Erstes will er wissen, was ich für mein Hotelzimmer bezahle. Es ist eine Prachtskammer mit Balkon auf den Hafen. Und natürlich nicht umsonst. Ich sage ihm den Preis. Und Emanuele kommen die Tränen: «Aspetta!» ? Er geht zum Concierge, redet in seltsamer Sprache auf ihn ein ? eine Mischung aus arabischem Markt­geflüster und italienischem Starkstrom. Später merke ich, dass ganz Syrakus diese eigene Sprache spricht. Und sie zeigt Wirkung: Der Concierge verneigt sich. Küsst mir die Hand. Und gewährt 50 Prozent Rabatt!
«Ich habe ihm gesagt, du seist der schweizerische Tourismusminister», flüstert Emanuele. (Bei meiner Abreise vier Tage später grinst der Concierge: «? und ich habe getan, als ob ich das mit dem Minister glauben würde, Signore. 50 Prozent Rabatt ? und es ist für beide von uns immer noch ein guter Preis!»)
Syrakus ist eine Wundertüte an diversen Bau­stilen, an prachtvollem Barock, griechischen und römischen Theatern und verträumter Belle époque. Die Hafenpromenade mit ihren Bänkchen und Schattenhecken ist eine Kulisse aus der Jahrhundertwende ? der Domplatz ist der Salon unterm Himmel. Und im Innern der Santa Maria delle Colonne erinnern die dorischen Säulen daran, dass hier einmal der Tempel der Athene gestanden hat. Jetzt ist es die Kirche der Santa Lucia, die nicht etwa in Schweden, sondern in Sizilien geboren wurde. Ihre Gebeine sind allerdings in Venedig. Und die Leute von Syrakus sind mit den Venezianern etwa ähnlich madig, wie die Basler mit den Zürchern. Sie finden, sie seien um Lucia bestohlen worden. Und verlangen die Knochen zurück.
Am Abend fährt mich Emanuele zu einem imposanten Bau in der Neustadt. Er sieht aus wie ein riesiges Betonzelt. Und es ist die grösste Wallfahrts­kirche Siziliens: Das Santuario della Madonna delle Lacrime.
11 000 Pilger finden im Innern Platz. Fällt das Sonnenlicht durch die Dachöffnung, sieht es aus, als würden 100 000 Tränen zu Boden fallen. Die Kirche weint.
«Die Sache ist noch gar nicht so alt», erzählt Emanuele. «In einem Aussenbezirk des Ortes litt Antonia in den 50er-Jahren an epileptischen Anfällen und schrecklichen Schmerzen. Sie flehte eine kleine Gips-Madonna auf ihrem Buffet an, ihr zu helfen. Plötzlich begann die gipserne Madonna zu weinen. Die Schmerzen waren weg. Und die Nachbarn eilten ins Haus, um die weinende Madonna zu sehen.
Die Gipsfigur weinte vier Tage. Man liess Analysen von der Flüssigkeit machen ? und es waren Tränen. Der Bischof von Palermo tat, was zu tun war ? und machte die Madonna zum Wunder. Und zu einem Pilgerort.»
Ich schaue leicht skeptisch: «? und an so etwas glaubst du?»
Er zuckt die Schultern: «Meine Grossmutter war eine der Nach­barinnen. Sie hat mir immer vom Wunder erzählt. Hunderte haben die Tränen ­gesehen. Und die weinende Madonna. In Sizilien haben wir gelernt, mit Tränen und Wundern zu überleben.»
Sizilien ist eine wundervolle Insel. Und braucht keine Erklärungen.

Dienstag, 11. Juni 2013