Vom verschobenen Flug und dem Dreizehnten

Flughäfen sind ein Taschenbuch voller Geschichten.
Gut. Das ewige Warten nervt. Aber wer die Augen offen hält, sieht die buntesten Kurzfilme. Punkto ­Spannung sind «Samschtig-Jass» und der Internet-Blog von Bundesrat Maurer ein Dreck dagegen.
Mein Römer Flug geht um 17 Uhr ? easy. Und so nehme ich es auch: packe mich mit Gratiszeitungen voll. Und bestelle einen Espresso samt französischen Croissants, die ein bisschen nach Paris und Erinnerungen schmecken. DER PREIS HOLT DICH DANN ALLERDINGS ZIEMLICH UNSANFT AUF DIE WELT DER ABZOCKEREI ZURÜCK ? FÜR DIESEN BETRAG MUSSTEN WIR VOR 40 JAHREN AN DER SEINE ZWEI WOCHEN AUSKOMMEN!
Aber wer will da klagen, wenns bald losgeht? Die Leute, die vor dem Gate 84, dessen Ende uns in die ewige Stadt fliegen wird, warten, sind fröhlich. Gut­ gelaunt. Einige vielleicht ein bisschen nervös, wie die energische junge Frau mit dem Rucksack, aus dem sie nun schon zum zwölften Mal eine Kunststoffflasche schält, um daran herumzunuggeln.
Ein junges Paar turtelt wie die nach dem Akt benannten Tauben ? allerdings ohne das lästige Gurren und das noch lästigere andere von sich zu lassen. Und die Nonne in der Schwesterntracht sitzt einfach still und mit sich selber glücklich auf einem Sessel. Ihre Hände sind gefaltet. Ihr Gesicht zeigt ein leises Lächeln ? stumm bewegt sie die Lippen im trauten Gespräch mit IHM.
Luisa, ein hyperaktives Mädchen, das seiner dicken italienischen Nonna immer entwischt und die Alte zur Verzweiflung bringt, Luisa also jagt die Gates rauf und runter. Die Kleine singt in allen Tonlagen. «Ich geh zu meinem Papa ? ich geh zu meinem Papa!» ? und die Nonna keucht wie eine alte Dampflokomotive hinterher: «Luisa ? adesso basta!» ? «Jawohl ? der kocht mir Pasta!», trällert das Frohherz. Einige Leute lachen. Die Nonna zuckt ihre breiten Schultern und hebt mit ­theatralischem Seufzer die Augen zum Himmel: «Bambini!»
Ein Lehrer erklärt seinen Schülern, was sie bald sehen werden: DAS PANTHEON ? EIN PRACHTBAU DER RÖMISCHEN ANTIKE UND ? Er wird abrupt von der überlauten Ansage unterbrochen: «EASY ZUM ABFLUG BEREIT!»
15 Minuten später sitzt alles angespannt und an­geschnallt in den engen Sesseln.
Die Motoren brummen. Und dann hören wir die Durchsage des Kapitäns: «Meine Damen und Herren ? leider ?»
Es ist der 13. des Monats. Und die Dreizehn zieht meistens ein «leider» mit. Dieses hier hat mit dem Triebwerk zu tun: «Wir bitten alle auszusteigen. Und hoffen, den Schaden bald zu beheben!»
Schon stürmen geschäftehuberische Männer in gelben Overalls das Cockpit. Sie haben Kleincomputer bei sich ? UND WAS DAS HEISST, WEISS JEDER: nichts Gutes!
In der Abflughalle sitzen wir Nicht-Geflogenen nun als eingeschworene Gemeinschaft zusammen. Die Nonne lächelt etwas weniger. Bei den beiden Frischverliebten ist die Frau in Tränen aufgelöst. Sie schluchzt immer wieder: «Die Romreise ist mein Geburtstags­geschenk. Niggi wird morgen 30.»
Nur die mit dem Rucksack holt demonstrativ neben der Wasserflasche ein Sudoku aus dem Rucksack. Sie grenzt sich ab, gibt sich abgeklärt ? etwa so, als hätte man in ihrem Leben den Höhenflug schon hundert Mal verschoben.
Einige äugeln immer wieder durchs Riesenfenster auf die Piste. Aber da ist nichts ? nur unser Flugzeug mit dem defekten Motor. Und die Sonne, die ganz langsam dahinter untergeht.
Wenn das Dingdong einer Ansage ertönt, schaut die Gruppe sofort gespannt auf ? dann ist es aber nur diese Frauenstimme, die alle fünf Minuten warnt, das Gepäck nicht unbeaufsichtigt herumliegen zu lassen.
Und: «Ohhhh», stöhnen die Menschen genervt.
Einmal erbarmt sich die Stimme und sagt, man fliege um acht. Aber das tun wir nicht. Dafür ? dingdong: «Um halb neun Uhr können wir weitere Informationen geben!»
Handys werden gedrückt. Verärgerte Gespräche geführt: «Ja, fangt schon mal mit dem Essen an ? nein, wir ­wissen nichts!»
Auch Innocent ist ungehalten: «Ich habe für dich bei Raffaela fangfrische Vongole eingekauft. Ich mache sie dir auf Knoblauchtoast und ?»
Und eine Stunde später ? DINGDONG: «Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass der Flug erst morgen um 10 Uhr starten kann. Wir werden Sie in Hotels unterbringen ? unsere Crew wird jetzt Sandwiches servieren.»
Alle schauen einander betroffen an. Jedem gerät der Kalender aus den Fugen ? denn jeder hat sein Programm. Und das platzt wie ein Ballon nach dem Nadelpieks. Das baldige Geburtstagskind tröstet seine Freundin. «So eine Basler Nacht kann doch auch ganz lustig ­werden. Ich habe noch nie in Basel übernachtet.»
«ICH WILL ZU MEINEM PAPA!», brüllt die kleine Luisa. Die Nonna versucht das Kind zu beruhigen. Sie kapiert aber nicht ganz, was nun eigentlich passiert. Da geht die Rucksack-Frau zu den beiden ? streckt dem Kind einen Müsliriegel zu. Und der Nonna die Hand. «Venga Signora!» Sie beruhigt die Alte in bestem Italienisch. Und bringt sie zum Flugpersonal, das Taxibons und Hotelgutscheine verteilt.
Zu Hause rufe ich Innocent an: «Ich kann erst morgen fliegen.»
Er ungehalten: «Und das sagst du mir jetzt, wo ich die Brotschnitten bereits im Toaster habe!»
Der nächste Tag ist sonnig. Die Gesellschaft der Gestrandeten sitzt wieder vor dem Gate 84. Man begrüsst einander wie alte Bekannte.
Das junge Paar erscheint eng um-­ schlungen. Und: «HAPPY BIRTHDAY», singen die Maturanden. Alle gratulieren Niggi, obwohl ihn keiner kennt. Aber er ist jetzt ein Stück unserer Unglücks­familie geworden. Und gemeinsames Pech einigt.
«HEUTE SEHE ICH MEINEN PAPA!», jauchzt die kleine Luisa.
«Adesso basta!», lacht die Nonna.
Fünf Minuten später ist Take-off.
Die Nonne bekreuzigt sich. Und wie das Flugzeug abhebt, applaudieren die Leute. Der Dreizehnte ist vorbei.
«In Rom scheint die Sonne», meldet der Kapitän.

Dienstag, 30. April 2013