Meine Grossmutter liebte das Vornehme? das Noble an und für sich. VOR ALLEM: AN SICH.
Ich schreibe da nicht von der Kembserweg-Omi. Die war Vaterseite. Schrubbte dreckige Böden für sauberes Geld. Und hatte zwei Knie, so breit wie Pfannkuchen aus der XXL-Bratpfanne.
Die Kembserweg-Omi war eine gewöhnliche Hammel. Ledig: Ditzler.
Die Mutterseite aber konnte vornehm auftrumpfen. So stellte sich die Ahnin stets als «Lydia Meyer, (PAUSE... dann) MEYER MIT YPSILON» vor.
Das Ypsilon war ihr ckdt der Burckhardts. Meier ohne waren wie Eier mit M. Sehr gewöhnlich. So wie es einen Burckhart ohne ckdt auch hart und nicht hardt trifft.
Mein Vater witzelte manchmal mit seinem etwas schellentrampenden Trämlerhumor: «Meine Schwiegermutter ist keine gewöhnliche Eierträgerin? ihre Eyer haben ein langes i.» Bei Vater war ein Ypsilon ein langes i. Die Grossmutter mit eben demselben verdrehte die Augen. «Was kann man vom Sechsertram anderes erwarten?»
Von ihrer Tochter hatte sie mehr erwartet. An jedem Familientreffen schaute sie meinen Vater wie eine versehentlich an ihrem Esstisch gestrandete Müllhalde an: «Ach Lotti? dabei hättest du so gute Partien machen können!»
Worauf die Kembserweg-Omi ihre Zähne reinzog und spitz bemerkte: «Ich bin immerhin eine Ditzler. MIT TZ!» Das Ypsilon betrachtete sie, als wäre ein zweiter Schuttberg abgeladen worden.
Damit das Kind nicht allzu stark von den Schenkelklopfsprüchen und Bohrmethoden der Hammelseite beeinflusst würde, unternahm das Ypsilon pädagogische Schritte.
Die Grossmutter packte dem Kleinen den Koffer. Und fuhr mit ihm an den Genfersee.
Ach so? ich sollte ja wohl noch die Bohrmethoden ausdeutschen. Die Oma nannte Vaters Seite «die Vulgär-Bohrer». Erklärung: «Wenn die nicht in der Nase rumkegeln, pflügen sie mit einem abgewetzten Streichholz vulgär in ihren Zähnen. Lotti, Lotti. Wenn ich denke, dass du sogar einen Lehrer hättest haben können!»
Am Lac Léman war dann dieses alte Hotel, dessen Jahrgang so verstaubt war wie die zitternden Kronleuchter oder die stolpernden Kellner, die stets ein bisschen an diesen schrecklich abgedroschenen Silvesterfilm vom besoffenen Diener erinnerten.
Aber der Grossmutter wars recht so. Denn in diesem Schauerkasten verkehrte der verarmte Adel aus einer Welt, die einander noch mit «Herr General» oder «Frau Postmeisterin» anredete. Es war eine Gesellschaft, die den Kronleuchtern glich: Sämtliche Birnen waren auf matt gedimmt. Und alle zwei, drei Tage ging wieder eine mit Knall ins Jenseits ab.
«Ist alles ein bisschen schmuddelig hier...», gab das Kind seinen Kommentar ab. «Frecher Bub», flüsterte die Oma. Und knuffte den Kleinen in die Backe.
Der Kellner versuchte vor dem Ypsilon einen Knicks. Er hielt auf halbem Weg stöhnend inne und rieb sich das Kreuz: «Es ist uns eine Ehre, verehrte Frau Oberingenieurin, Sie mit Ihrem reizenden Sohn wieder bei uns zu haben.»
«Ach Ernest», gurrte die Omi albern, «Sie sind doch immer derselbe alte Charmeur... der tuntige Frosch ist doch mein missratener Enkel.»
«Was ist eine Oberingenieurin?», piepste ich.
Das Ypsilon knuffte dem Kleinen wieder in die Backe. Und trällerte: «Ach, diese Kinder...», und: «... das ist der Jüngste von Charlotte. Sie erinnern sich doch noch...?»
Für einen kurzen Moment leuchteten die Augen des Kellners, als habe man den Speisesaal mit 1000 Kerzen beleuchtet: «Das wunderbare Fräulein Charlotte... ich hoffe, es geht der verehrten Frau Tochter gut... nun ist sie also verheiratet... darf man fragen, mit wem?»
MAN DURFTE NICHT! Das Ypsilon wechselte abrupt das Thema. Und verlangte nach einem Schalenglas mit Asti Spumante.
Ernest deutete wieder einen Knicks an: «Die gnädige Frau weiss noch immer, was den verwöhnten Gaumen erfreut...»
Ich durfte auch ein Schlücklein vom klebrigen Gesöff probieren. Und machte sofort auf besoffen? eine Rolle, die ich von Onkel Alphonse (Hammelseite) gut kannte: «Herr Ernest? ich weiss einen Wirtinnenvers...»
Diesmal knuffte die Oma nicht mehr. Jetzt gab sie mir direkt den Tritt ans Bein.
Etwa ein halbes Jahrhundert später animierte ich Innocent: «Wir könnten doch mal eine Woche an den Genfersee fahren. Ich weiss da ein wunderbares, uraltes Hotel mit einem Oberkellner, der wackelt wie unsere Ständerlampe. Vermutlich wird er dich mit?Herr Oberleutnant? anreden.»
Das mit «Herr Oberleutnant» überzeugte ihn. Denn immerhin ist er ein geborener Innocent. MIT DOPPEL-N.
Es war eine schöne Fahrt ins Welschland.
Aber umsonst.
Die Glühbirnen im Glasleuchter waren auf ewig erloschen. Und wo einst die «verehrte Frau Oberingenieurin» ihren Asti verlangte, gabs jetzt japanerinnenblasse Fritten zu chiligewürzten Burgern und die Frage: «Ketchup oder Mayo?»
Ich biss geistesabwesend in einen der watteweichen Fladen: «Hier habe ich Ernest heimlich den Wirtinnenvers aufgesagt...»
«WER IST ERNEST?», horchte Innocent auf. Und dann genervt: «UND WESHALB NENNT MICH KEINER HERR OBERLEUTNANT?!»
«Vergiss es», knurre ich. Und denke an die guten Partien, die meine Mutter nicht gemacht hat.
Vom Unterschied in den Familien und alten Hotels
Samstag, 30. Juli 2011