Vom Sturm in Adelboden und der Milch

Weiss der Teufel, was die Menschen immer mit diesem Naturwahn haben.
OH GÖTTLICHE BERGWELT!? OH HERRLICHE WÄLDER! Solche Schlagwörter schmieren sie dir auch in der «Tele-Arena» um die Löffel. KEIN WUNDER, DASS DANN ALLES AUF «SUSI UND DIE GEILE DREIZEHN!» UMSCHALTET!
Ich meine: Die Natur sind Bäume, die es wie Zahnstocher weggeknickt hat... Gerölllawinen, die sich plötzlich über die grünen Auen ausgiessen wie Kembserweg-Omis Zopfteig aus der Schüssel.
UND KEINE ZIEGEL MEHR AUF MEINEM CHALETDACH!
Seit dieser Frühjahrssturm über Adelboden weggefegt ist, liegt hier kaum ein Stein mehr auf dem andern. ALLES DURCHGEBLASEN. WEGGEPUSTET. UMGEHUSTET!
Von wegen «Oh du liebliche Wiese, du summende Biene». DAS EINZIGE, WAS SUMMT, SIND REIHHERUM DIE BAUMSÄGEN. UND DIE NERVENSÄGEN GANZ ZÜNFTIG AN DEINEM OHNEHIN SCHON ZERSÄGTEN GEMÜT.
Da war also der Sturm von gestern. Und das ist das Oberländer Credo von heute: «Na und? Das hats schon immer gegeben... Es gab ja auch mal eine Eiszeit!» NA, DANKE. DIESES DENKEN DECKT MIR MEIN DACH AUCH NICHT NEU!
Wenn wir behutsam das grüne Liedlein von der kranken Umwelt und klimaerhitzten, tropfenden Schneebergen anstimmen, werden solche Bedenken vom Alphorn gleich weggeblasen.
«WAR IMMER SO.»
Ach ja? Und weshalb wird der schneeweisse Rücken meines Lieblingsbergs WILDSTRUBEL mit jedem Jahr schmaler? Der lange, eisbedeckte Grat ist Wahrzeichen des Ortes. Nun schmilzt dieses Wahrzeichen wie die Einschaltquote beim Schweizer Fernsehen. UND KEINER TUT ETWAS.
Nein. Von allen Seiten heissts: «DAS IST HALT SO. UND WAR IMMER SO.»
Ich gehe zu Lysettli. Sie ist meine Nachbarin. Und sie schleppt riesige Baumklötze in die Garage, die ihr Mann, der Jodel-Edi, mit der Elektrosäge in Brennklötze aufteilt.
«Eh, du miner Droscht... Hesch de gseh, wies vo dim Hüttli s Dach wägblaset het?»? Edi zeigt Anteilnahme, ohne die Sägerei zu unterbrechen.
Nun holt mein Nachbar einen Schnaps. Lysettli ein Glas Milch? sie haben ihre eigene Art, den Mitmenschen zu trösten: «Daaa? nimm es Schlückli...»
Gegen Mittag nehme ich den Spazierweg nach Gilbach. Auch hier hat der Frühlingssturm böse gewütet. Die Tannen liegen wie Mikadostäbe herum. Edi und Lysette werden noch lange Brennholz haben.
Über mir surren Silberkabinen. Die meisten sind leer. Im Winter stehen die Menschen an der Talstation oft stundenlang an, um in den Gondeln zum Skizirkus getragen zu werden. IM SOMMER ABER IST SENDEPAUSE. Dort, wo bereits Mitte November die Eiskanonen den Winterspuk losspucken, blühen jetzt die allerschönsten Alpenrosen. Männertreu. Und Enzian. Ich liebe diesen Sommer in Adelboden. Die Bergler haben mehr Zeit für ihre Gäste. Und die Natur legt dich nicht alle drei Minuten flach. Ich meine: ES GIBT NICHTS HEIMTÜCKISCHERES ALS DIE VERBORGENEN EISSTELLEN AUF DEN WINTERWEGEN! ALLES ARSCHGLATT, KANN ICH EUCH SAGEN... glatte Verarschung! Da hocke ich lieber daheim vor meinem warmen, umweltunfreundlichen Ölofen.
Welcher Rentner fällt schon gerne auf sein frisch eingebautes Hüftgelenk aus Edelchrom?
Der Sommer ist da besser. Da tragen die Menschen auch nicht diese klotzigen «Snöbi»-Schuhe und torkeln wie Astronauten in der Gegend herum. Sie haben jetzt fröhliche Kneipsandalen und einen Hirtenstock zur Hand.
So stochern sie durchs Grüne und freuen sich an den Kühen, die da ihre grobe Grasverdauung in einem fetten Schwall losbrettern lassen und mit solchem Grasgas irgendwie das Ozon beeinflussen sollen. ABER MAN KANN JA DIE WELT NICHT NUR VOM ADELBODNER OZONLOCH AUS BEURTEILEN! KÜHE HABEN STETS GESCHISSEN.
WAR IMMER SO!
Auf der kleinen Alp über Gilbach rasten wir beim «Hobelchääs-Änneli». Die Familie bewirtschaftet schon seit Generationen das kleine «Güetli» mit dem von der Sonne ergrauten Holzhaus. Und der Wiese, wo wir als Kleinstkind unsere ersten Ski- Stemmbögen versucht haben. Änneli ist die dritte Generation, die mir hier vom flockig-lockigen Hobelkäse auftischt. Aber Jahrhunderte vorher schon haben auf den sanften Hügeln viele Generationen der Änneli-Familie das Gras gemäht. Geheut. Und alles dann auf dem Buckel, den sie mit einer Wolldecke abdecken, auf den Heuwaagen gehievt. DAS WAR IMMER SO.
Änneli stellt mir ein Glas mit schäumender Frischmilch hin. Ich mag diese frische Milch. Sie schmeckt nach Rahm, nach dem Gras hier? sie schmeckt nach jenen Kinderjahren, als wir bei den Pierens auf dem Hof solche «Chuehmiuch» im «Chesseli» holten. Die Rahmschicht schwamm stets fingerdick obenauf. Die haben wir mit einem Holzlöffel in ein Mucheli abgeschöpft. Und das dunkle Bauernbrot hineingebrockt.
O. k. Herr Marti, mein Körperklempner und Medicus, behauptet heute, dort seien die Fettzellen und das Übel meiner Figur herangezüchtet worden. Egal. Die gute Bauernmilch war die Rundungen wert.
Und schon meine Grossmutter neigte körpermässig eher zum Üppigen. DAS WAR IMMER SO.
«S heig dr s Dach wäggnah», sagt Änneli. Und streift ihre rauen Hände an der Schürze ab, «öis o, gsesch». Da erst sehe ich es. Der Giebel des Hauses ist mit Plachen abgedeckt. Die Dachdecker des Oberlandes haben Wartelisten.
«Das hets umhi immer gäh...», sagt Änneli. Und stellt mir ein zweites Glas mit der Bauernmilch hin. Sie trägt einen fetten Rahmkragen.
Kevin, der Kleine meines Göttibuben, schaut angeekelt auf das Glas: «Pfuiii... Was ist das?»
«Das war immer so», sage ich.

Samstag, 18. August 2012