Vom Skizirkus und einer Staub-Mütze

Der Zirkus kommt. WUNDERBAR.
Seit Wochen fliegen an meinem Adelbodner ­Winzig-Chalet Helikopter mit Tonnen von Trag­masten, die an dünnen Drahtseilen schaukeln, ­vorbei. RIESENLIBELLEN MIT KRAFTSAFT­- NAHRUNG.
Im Gegensatz dazu hängt ein vergilbtes Plakat an Annerösis Skikluft-Laden: «TRAGT SORGE ZUR NATUR!»
BINGO! In dieser Natur werden alpenhohe ­Tribünen errichtet. Das Roche-Hochhaus wird ein Zahnstocher dagegen. Das Kuonisbergli ist seit Wochen künstlich beschneit. Der legendäre Riesenslalom-Hang wird tiefgefroren wie das Pouletbrüstchen beim «Sonnen»-Wirt. Und das Militär winkt mich als ärgerliches Hindernis genervt an aufgebauten Cüpli-Bars im gemütlichen Holzschopf-Stil vorbei? an Käse­ständchen, wo flüssig Fondue im wattigen Sandwich-Schlafrock verkauft wird? vorbei auch an «GÖPFIS K.O.-­SCHYWASSER BUDE», wo die Alko-Leichen bald einmal reihenweise liegen werden. Ihre Gesichter sind derart bleich, dass sie im Frischschnee kaum auszumachen sind.
Unsere Familie hatte das Pech, die Hütte vor mehr als einem halben Jahrhundert kaum einen satten Steinwurf entfernt vom Geschehen bauen zu ­lassen. O.k. Damals herrschte noch Stillstand. Ruhe. Kuhglocken-Idylle.
Der einzige Event des Adelbodner Jahres war ein Säuli-Jassen im «Bären». Und der gemischte Jodel-Abend. Ansonsten: tote Hose.
DANN KAM DER GROSSE ZIRKUS. UND MIT IHM DER EBENSO GROSSE WANDEL VON ADELBODEN ZUR SKI-DISNEY-WORLD.
Jeder, der hier in der Nähe des Bätziwasser-­Wetttrinkens und der Bierdosen-Pyramiden haust, weiss, was der Zirkus bringt. Ob Nebelschwaden oder Sonnenschein: IN MEINEM ALPEN­GÄRTCHEN WIRD SICH DER FLAUMIGE FRISCHSCHNEE BALD EINMAL INS PISS­GELBLICHE VERFÄRBEN.
Bref: eine Traumlage. Doch zu wenig Aborte. Und somit eine verschissene Situation.
Als Mitte der Fünfzigerjahre einige ­Pioniere ein Event ausriefen, das sich ADELBODNER SKITAGE nannte, war mein Vater Feuer und Flamme. Der alte Hammel hockte eh immer dabei, wenn die Zapfen gezogen wurden und der Aigle wie die Engstligenfälle rauschte.
«So ein Skitag wird uns mehr als 200 Gäste bringen», versprach der damalige Kurdirektor. Er war mit wenig zufrieden. Und er war überdies Nationalrat einer Partei, die heute noch 97 Prozent des Dorfdenkens lenkt. Freunde sagten von ihm, dass er mit seinen feurigen Reden gar einer Kuh einreden konnte, sie sei ein Geissbock.
DIE ADELBODNER SAGTEN ALSO JA. Denn erstens war so ein Rennen immer noch besser als das Januar- Blockflötenkonzert der Gemeindeschwestern in der Dorfkirche. Und zweitens waren schon damals viele Dorfbewohner frohe Schluckspechte und den gezogenen Korken nicht abhold. DER ZAPFEN WAR SOMIT AB? UND EINIGES LOS AUF DEM LAND.
«Diesen Event sind wir unsern Skifahrern schuldig», meldete sich mein Vater im Basler Freundeskreis. Er redete ähnlich talentiert wie der Adelbodner Nationalrat. Allerdings auf der gegenüberliegenden politischen Seite. Aber der Elan «für die gute Sache» einigte die zwei politischen Lager, wie so oft? UND DAS ERSTE KUONISBERGLI-RENNEN WURDE EIN EREIGNIS VON LINKS BIS RECHTS. VON OBEN BIS UNTEN, wenn man so will?
Es kamen damals (wie auch heute noch) viele Basler, die von den Bauern respektlos als «Flachland-Indianer» bezeichnet wurden. Wir beherbergten im Chalet doppelschichtig? die Bade­wannen wurden mit Schaumgummi ausgelegt, im Waschhaus wurden die Zuber für die Kleinsten zurechtgebettet (dreimal dürfen Sie raten, wer in einem 20-Liter-Buttermilch-Behälter die Beinchen verhedderte und es seither nicht mehr unter einem Fünf-Sterne-LARGE-SIZE-BETT macht).
Die Damen hatten sich für den Event zünftig aufgerüscht und meine liebe Mutter entlieh ihrer Schwägerin einen Persianermantel, der allerdings schon ziemlich schäbig war. ABER ­IMMERHIN! Auf diesem Fleckchen Erde kannte man bis dahin nur das Fell der Kuh, was unsern Nachbarn, den Tannenhonig-Bauern, auch zum Ausruf: «Ehhh, Lotti? hesch dr es ruessigs Chaub umgheicht?» verleiten liess.
She was not amused.
Papas Basler Freunde aus dem sozialistischen Lager vereinigten sich dann friedlich mit dem Rechtsaussen-Lager des ortsansässigen Nationalrats vor unserem Chalet. Es ging einzig und alleine darum, für die Schweiz einen Sieg herauszuholen. Und da zeigte sich die Politik damals noch drei, vier Schwünge konzessionsfreudiger und patriotischer als heute.
Jedenfalls steckte man den Kleinen in kratzende Knickerbocker. Und befahl ihm, beim Aufrufen eines Schweizer Skifahrers zünftig mit dem rot-weissen Fähnchen zu wedeln.
Natürlich hätte ich statt der Knickerbocker lieber so einen schicken Kuhpelz getragen, aber mein Vater klopfte mir eine Kopfnuss und meinte: «Die sind todschick und ein absoluter Modetrend. Wenn du in unserer Partei einmal Bundesrat wirst, darfst du auch einen Pelzmantel tragen.»
Ihr könnt mich jetzt packen und würgen, ich weiss beim besten Willen nicht mehr, wer diesen ersten grossen Riesenslalom in Adelboden gewonnen hat. Ich weiss nur noch, dass es tatsächlich ein Schweizer war. Er hiess Roger. Und läutete den Siegeszug des Adelbodner Skizirkus ein.
Rogers gestrickte Rennfahrermütze wirbelte übrigens zünftig Staub auf. Sie sollte später als wintersportliche «Staub-Mütze» ein Modeknaller werden.
Meine Knickerbocker sind das nicht geworden.
Ich wurde auch nie Bundesrat. Und nach einem unlöblichen Ausrutscher in einen knielangen Nerz trage ich eh keine toten Tiere mehr.

Sonntag, 20. Januar 2013