Vom Silvesterglück und belegten Broten

Es gab belegte Brote. Und immer dasselbe Drama: «WESHALB MUSS IMMER ICH DIESEN ZIRKUS AUSRICHTEN? DEINE SCHWESTER HAT DOCH EINE GRÖSSERE WOHNUNG UND MEHR ZEIT...» Auf die Frage der Mama wusste keiner eine Antwort. Wollte auch keiner eine geben. Denn es war klar: SILVESTER BEI UNS. Bäckermeister Schneiderhahn hatte für die Fete Weissbrot in Kastenform gebacken. Das liess sich gut schneiden. Vater sägte fingerdicke Schnitten ab. Und Rosie bestrich alle mit einer Mischung aus Senf, Mayo und weicher Margarine. Auf dem Küchentisch lagen die Zutaten zum Belegen wie Malfarben im Atelier: bereits eingetrocknete Eierscheiben, nasser Büchsenspargel (den wir nur sparsam verwenden durften, da teuer), Leberwurst (da durften wir klotzen), Selleriesalat, Aufschnitt? und ein Döslein mit Saumon (das Exklusivste von allem!). Der norwegische Büchsensalm war für die vornehme Oma aus der Muttersippe bestimmt. Vater bestand darauf, dass sie ihn serviert bekam, um ihr zu beweisen, dass ein Trämlergehalt zum Überleben absolut reicht. Im Gegensatz zum Heiligen Abend, wo unser Familienoberhaupt dafür sorgte, dass er Tramdienst hatte und so den «Familientürk» schwänzen konnte, tat er alles, um am Silvesterabend freizubekommen. Zusammen mit Schwager Alphonse kaufte er nun den billigsten Spritzfusel, der auf dem Markt zu haben war: «Die Qualität spielt eh keine Rolle», grinste Vater. «Wir mixen das Gesöff mit einer Flasche Kirsch und viel Ananassaft? das macht die Weiber bald einmal kirre!» Da mir als extravaganter Trämlertochter schon als Kind der Geschmack von Alkohol gegen den Strich ging, kann ich nicht sagen, ob die Silvester-Bowle, die mit roten Büchsenkirschen angereichert wurde, so ein Hammer war, wie Rosie das immer behauptete. Sie hatte sich schon als Zwölfjährige gierig mit dem Gebräu zugetörnt. «Lass sie doch? ist ja kaum Stoff drin!», nahm Alphonse seine Nichte in Schutz, als deren Mutter ihr entsetzt das Glas aus der Hand reissen wollte. «Isss ja erssst das Finfffte...», hickste das Kind. Es war voll wie eine Haubitze. Und verbrachte den magischen Mitternachtsmoment kotzend auf dem Klo.
Dennoch schwärmte Rosie später noch ihren Grosskindern vor: «Nie hab ich etwas Besseres in mich reingeschüttet.» BESSERES? Mein Gott! Da spielt aber die Erinnerung bös in der vierten Liga. Der Sprudelwein nannte sich «Asti Spumante». Er war so klebrigsüss wie ein österreichischer Heimatfilm.
SO ETWAS WAR NICHT FÜR DAS SCHÖNSTE KIND MEINER ELTERN BESTIMMT! Ich nippelte am Kelchglas mit etwas verdünnter Himbeerlimonade, weil das so farblich am besten zu meinem violetten Plüschpullover passte. Der gute Stil war mir wichtig. Ich hatte schliesslich auch die Tomaten mit Mayo betupft, sodass sie wie Fliegenpilzchen aussahen? ICH MEINE: MAN(N) IST NIE ZU JUNG, UM SICH BESTIMMTE ALLÜREN ZUZULEGEN. Entsprechend habe ich später bezüglich meines Vorbilds Sissi beim besten Willen nicht begreifen können, wieso sie in ihrem rosa Kaiserinnen­-Ballkleid mit diesem ordinär pissefarbigen Schaumwein anstiess. WO BLIEB DA DIE STILZENSUR? «Das Buffet ist eröffnet», klatschte Mutter in die Hände. Und machte ganz auf elegante Gastgeberin.
Später, zur sowjetischen Zeit, als ich mit ihr eine Silvesternacht in Moskau feierte und wir im alten Kasten Europa zum Mitternachtsbuffet gerufen wurden, rümpfte die Trämlergattin hochmütig die Nase: «Mein Gott, nur Salatschüsseln voll mit diesem Kaviarzeugs... kein einziger Büchsenspargel... und die Eier gehackt wie im Hagel. BOLSCHEWISTEN!» Es war eine lustige Familiensitte, dass? nachdem der Stubenteppich eingerollt worden war und alles zum Grammo­-Sound rumwalzerte? irgendjemand das Silvesterglück in der Stube einführte. Einmal hat Vater die kleine Rosie in ein Kleeblattkostüm gesteckt und am Kletterseil vor dem Haus abgeseilt. Da er schon ziemlich viel Bowle intus hatte, baumelte das arme Mädchen wie das Pendel einer Riesenuhr an den Fenstern hin und her.
Die Kembserweg­-Omi erschien im Jahr danach als Kaminfeger. Sie hatte sich in ihrem Eierkohlen­keller schwarz getüncht und von Herrn Bitterli, der stets ihren Ofen ausrusste, das Fegerkos­tüm ausgeliehen. So tauchte sie wie eine pechschwarze Fata Morgana in unserer eben frisch gestrichenen Wohnung auf. NA JA? DREI MAL DÜRFT IHR RATEN, WIE DIE SCHWIEGERTOCHTER DA REAGIERT HAT.
Die tollste Glücksbringerüberraschung aber bescherte uns Onkel Alphonse, als er mit einem rosa Ferkelchen, dem er eine lindgrüne Schleife um den Hals gebunden hatte, auftauchte.
«Süsss... ach wie niedlich... EINFACH ZUM FRESSEN!», quieckten die Frauen, die bereits auf Alko-Stufe drei rumhipperten. Doch dann hüpfte das Schweinchen dem Onkel vom Arm. Es jagte über unsere mit so viel Liebe belegten Brote und ging zielsicher auf die zwei mit dem Büchsensalm los. Auch den Spargel hooverte es sich mit drei Grunzern rein. Nur die Leberwurst liess es aus Pietät gegenüber seinen gehackten Vorfahren liegen. «DAS WAR DAS LETZTE MAL!», zischte unsere liebe Mutter.
Der Stubenteppich wurde nie mehr eingerollt. Der Grammo verstummte. Und norwegischer Salm fiel im Preis.

Sonntag, 30. Dezember 2012