«Die Russen waren im Anmarsch. Man hörte schon ihre Kanonen!»? das war Tante Ilse. Und ihr Drama zum Tag. Ilse war Mutters Cousine. Ihr Haar schimmerte gelblich und ihre Zähne waren auf jedem Kuchen drei Schritte voraus... Es war eine der wenigen Frauen, um die Vater einen Bogen riss. Wir Kinder aber hingen fasziniert an Ilses hervorragenden Mausezähnchen, die so wunderbare Geschichten erzählen konnten. Stets waren wir aufs Neue fasziniert, von den immer anders gesponnenen Fluchtschilderungen aus jener Zeit, als der Russe kam. Sagen wirs mal so: ILSCHENS RUSSENSAGA WAR HEISSER ALS HEUTE JEDER TATORT AM SONNTAG.
Mutters Base war ein Mädchen mit getupfter Haarschleife und pommerscher Vergangenheit. Der Grossonkel führte einen kleinen Bauernhof und kämpfte fürs Reich. Als dann der Russe kam, schlachtete die Grosstante alle vier Hühner und das Kaninchen. So ausgerüstet flüchtete sie mit Ilse vor der Vergangenheit. «Für die Russen waren junge Mädchen wie ich Freiwild», jammerte das Tantchen. Sie war allerdings in ihrer flüchtigen Schilderung so unvorsichtig, ein Foto bei der Familie herumgehen zu lassen. Mein Vater schaute genau hin. Und weil er ein Feingefühl wie ein Schlachthaus hatte, schüttelte er mit Kennerblick den Kopf: «Ilschen? DA WAR NUN WIRKLICH KEINE GEFAHR. SO HUNGRIG WAREN DIE RUSSEN NICHT IM MIESESTEN KRIEG!»
Mutter hackte ihm energisch den spitzen Pumpsabsatz auf den Trämlerfuss und zischte. «Hans? pas devant les enfants!» Doch die Tante spritzte Tränen wie ein undichter Gartenschlauch: «Ach, was wisst ihr Kuhschweizer schon vom Krieg!», schnüffelte sie. «Die Russen waren heiss wie ein tausendfach geschlagener Amboss! Deshalb haben wir die vier Hühner und den halblahmen Karnickelmann geschlachtet. Der Erlös hat uns die Schiffskarten nach Hamburg bezahlt!»
«IHR HABT DIE TIERE GETÖTET!?», jaulte Rosie auf. Sie galoppierte damals grad durch ihre «NUR TIERE SIND MENSCHEN»-Phase.
Um es mit der geflohenen Grosstante und ihrem unschönen Kind kurz zu machen: Der Gatte benutzte den Krieg, um sich von der Familie zu befreien. Er blieb auf immer und ewig verschollen. Und erhielt jeweils auf Allerseelen eine Kerze am Grab des unbekannten Soldaten angeflammt.
Die Grosstante aber tauschte den Erlös vom vierten Huhn gegen einen Zuckerstock ein. Den Zuckerstock gegen zehn Gramm Gold. Das Gold gegen zwei VW-Aktien. Nach fünf Jahren war sie eine renommierte Börsenmaklerin in der Hansestadt? und nach zehn Jahren hätte sie ihrer Tochter spielend eine Zahnkorrektur bezahlen können. Sie investierte aber ihr Geld in Öl. UND MEHR BRAUCHE ICH HIER WOHL NICHT ZU SAGEN.
Ihre Tochter fuhr bald einmal ein Chauffeur, der Egon hiess und dem die Gangschaltung wichtiger war als die Raffelzähne seiner Chefin. Jedenfalls bot Ilses Familiendrama unserem lustigen Vater immer wieder die Gelegenheit, seinen Witz loszuwerden: «Das beweist doch, dass man in einer Familie gar nicht genug Hühner haben kann...» DANN KAMEN WIEDER MUTTERS PUMPS ZUM EINSATZ!
Während Rosie durch Ilses Russen-Geschichte keinen Schaden erlitt und bald einmal von «fleischlos» auf «US-Beef? aber saignant, bitte!» umstieg, hatte mich die Saga vom «ambossheissen Russen» stark geprägt. Ich sah ihn feurig vor mir? und dies zu einer Zeit, als man vom Kalten Krieg sprach. So kam es, dass ich mir in jungen Jahren von einer Kürschnermeisterin einen bodenlangen Bibermantel anfertigen liess und mit meiner Freundin Beatrice in Moskau den Zug nach Sibirien bestieg. Wir waren vollgespickt mit Visen und Ermahnungen eines Basler Grossrats, der damals der PdA angehörte? wir waren aber auch voll von Erwartungen, was den feurigen Amboss sowie das Heisse im kalten sowjetischen Reich betraf.
Das Heisseste, was uns auf der Januarfahrt nach Chabarowsk begleitete, war dann ein dampfender Samowar, der sechs Tage lang sein Teewasser ins vergilbte Porzellanbecherchen tröpfelte. Ansonsten ernährten wir uns vom legendären russischen Salat, an dem die Eier fehlten wie beim Herrn Eunuch. Und dann noch von dieser Suppe, die sie Borschtsch nennen, die aber einfach ein Sammelsurium der Mittags- und Abendmenü-Resten unseres Speisewagens wurde. Die Suppe wurde täglich dicker? aber mit diesem Klecks Sauerrahm und den paar Brocken Randen schmeckte sie göttlich exotisch.
Der Zug hielt alle vier Stunden an irgendeinem Bahnhof im verschneiten Niemandsland von Sibirien. Bauernfrauen hockten in wollene Tüchern eingewickelt auf dem Perron. Vor ihnen glühten kleine Kohlenberge und spendeten etwas von dieser russischen Hitze, von der Tante Ilse geschwafelt hatte. Die Babuschkas hielten schwarze Töpfe beim Feuer. In den Pfannen waren gekochte Kartoffeln, die sie mit geschmolzenem Schweineschmalz und gerösteten Zwiebelringen gewürzt hatten? nie haben wir Köstlicheres gegessen.
Irgendwann kam dann auch ein russischer Offizier ins Spiel. Er entführte uns an den Baikalsee. Und Jahre später konnte ich in meiner Fiche, welche Denunzianten in unserm Land zusammentrugen, nachlesen: «Der Besagte ist von einem oberen Militär per Pferdeschlitten in dessen Datscha entführt worden! Mehr ist nicht bekannt...»
DIE GESCHICHTE REICHT IMMERHIN, UM HEUTE BEI EINEM BESUCH DIE FANTASIE MEINER NICHTEN UND NEFFEN ANZUHEIZEN.
Und wenn ich gar noch die Bilder herumzeige...
Nur mein vorlauter Vetter Tom meint dann naserümpfend. «Kein Wunder, dass die Sowjetunion zum Scheitern verurteilt war!»
UND KEINE MUTTER MEHR DA, DIE IHN MIT DEN PUMPS TRAKTIEREN KÖNNTE!
Vom Russen, der kommt und Tante Ilses Flucht
Samstag, 16. Juli 2011