Vom Romeno, der aus der Kälte kam...

Als der Romeno erstmals in unserm Römer Quartier auftauchte, schenkte ihm kaum jemand Beachtung.

Das unscheinbare Männchen mit dem Stoppelbart und dem etwas verfilzten Haar, dessen Farbe zwischen vergilbtem Stroh und Taubenscheisse wechselte, war wie alle diese Männer, die damals aus dem Osten hierher kamen: VOLL DER HOFFNUNG. VOLL AUCH VON VERTRAUEN AUF DEN POLNISCHEN OBERHIRTEN UND DARAUF, ALS GUTGLÄUBIGES SCHAF IN DESSEN PARADIES GRASEN ZU DÜRFEN...

Sie erwarteten alle das Paradies, DAS SIE «DEN Westen» nannten. Sie freuten sich auf eine italienische O-Sole-mio-Sonnenwonne und liebevolle Wärme dieser Menschen, die sie in den Filmen vor ihren Schwarz-Weiss-Fernsehern immer so fröhlich und lustig erlebt hatten.

DOCH FERTIG MITLUSTIG.

Die Leute aus dem Osten wurden hier mit Augen taxiert, die eisiger waren als die Taiga zur Zeit von Väterchen Frost. Und auch mit der vielbesungenen sonnigen Wärme war nicht viel los. Die Sonne hatte sich mit vielen andern aus dem Staub gemacht, um nicht ansehen zu müssen, wie das Land unter seinen Politikern vor die Hunde geht.

Die Leute aus dem Osten verdienten ihre Spaghetti mit harter Schwarzarbeit und ersäuften das brennende Heimweh im Grappa - es war dieser Schnaps, der sie an den feurigen Fusel von zu Hause erinnerte, an dieses Wässerchen, zu dem sie automatisch gegriffen hatten, wenn ihnen daheim das Herz so trüb wie ein später Novembertag war. UND ES WAR IMMER NOVEMBER.

Hier nun beteten sie bei allen Heiligen (und das sind nicht wenige) um eine bessere Zukunft. Aber sie beteten umsonst. Längst waren nicht nur die Marken ihrer abgewetzten Trainingshosen und ausgelatschten Turnschuhe global - das ganze Ungück der Menschheit hatte sich ein Einheitslogo zugelegt.

Der Romeno war also einer von vielen und doch wieder anders. Seine guten Manieren und die galante Art, wie er den Damen die Hände küsste, liessen eine Vergangenheit von besserem Stande vermuten. Im Übrigen konnte das Männchen mit abgegriffenen Tarotkarten und Handlinienlesen den Weibern und Weichlingen des Quartiers die Zukunft deuten. Ja bald einmal ging rund um die Piazza Minerva, wo der Romeno sich nachts auf den Stufen des gotischen Gotteshauses niederliess und den dünnen Körper mit verfetztem Wellkarton abdeckte, bald also ging das Gerücht um, der Romeno sei nichts weniger als ein unglücklicher Königssohn aus Bukarest. Der Arme habe einer unerhörten Liebschaft wegen seine Schlösser, Kronen und die edle Familie verlassen, um all sein Unglück zu vergessen und sich hier mit Handküssen und Grappa über Wasser zu halten.

NA JA...

Die Italiener sind eben Kinder. Sie glauben gerne, was sie glauben wollen. In unserm Falle wars das Märchen vom armen Königssohn, der sein Leid in Schnaps einlegte.

Man konnte nun aber Tag für Tag zusehen, wies mit dem Romeno bergab ging. Sein Gesicht mit den senfigen Stoppeln hatte bereits das durchsichtige Gelb der wächsernen Madonna von Lourdes. Es wurden immer mehr Grappaflaschen und immer weniger Handküsse - da gab ein Aufmarsch an kniehoch gestiefelten Carabinieri dem Stromer den Rest. Sie verwüsteten sein Lager zu Füssen der heiligen Katharina und transportierten den gar nicht mehr vornehm lächelnden, sondern happig ordinär Fluchenden in eines dieser zahlreichen Lager für Obdachlose.

Am Gürtel der ewigen Stadt hatte die neue Regierung nämlich für Drogenwracks, Zigeuner und kriminelle Subjekte Kasernen aus dem Boden gestampft. So wurden die Touristen nicht mehr von zerlumpten Bettlern, zugetörnten Freaks oder ungewaschenen Obdachlosen belästigt. Das funkelnde Tourist-Disneyworld des Römer Centro storico konnte so weiterhin die rosige Kulisse von Disney-Rome spielen.

Die unterste Kirchenstufe, auf der nun ein Wellblechkarton zurückblieb, mutete nun so gespenstisch verlassen an wie die meisten Gotteshäuser dieser Welt. Die Menschen vermissten ihren Romeno - bis der eines Tages wächserner und durchsichtiger denn jeh zurückkehrte.

Er war aus dem Elend im Ghetto geflohen, hatte sich auf seine Kirchentreppe gesetzt und wollte - wie er ein paar Kunden, die ihm erwartungsfroh die Handlinien hinstreckten, zuflüsterte - hier, zu Füssen der heiligen Katharina, in eine bessere Welt abreisen.

So haben ihn denn an jenem eisigen Dezembermorgen die Carabinieri unter dem Wellkarton gefunden - in seinen Armen lag die letzte Flasche Grappa wie der kleine Süsse an Marias Brust. Auf seinem Gesicht aber soll ein glückliches Lächeln gewesen sein - ein Lächeln, als hätte er alle Schlösser und Kronen Rumäniens bei herrlichstem Sonnenschein wieder gesehen...

Dienstag, 13. Dezember 2005