Vom Reh am Heiligen Abend und den Rosen

Weihnachten ist nicht immer Weihnachten. Letztes Jahr wars kein Fest. Jedenfalls nicht für mich. Die Geschichte ist schnell erzählt: Der Wagen nach Italien war gesattelt, der Geschenkberg im Kofferraum verstaut. Vorher hatte ich auf die Insel angerufen: «BITTE LICHTER FUNKELN LASSEN. KLEIDET ALLES IN 100'000 VOLT. UND LASST ES ILLUMINÖS KRACHEN!» «Si Signore», trompetete Gianni in den Hörer. Sein Vater war Fischer. Und sein Sohn brüllt heute noch in ein Drahtlostelefon, als müsse er mit seiner Stimme den Vater im Meeressturm erreichen.
Es war also alles für die Insel bereit. Da stand Innocent plötzlich neben mir. Auf seiner Stirne bildeten sich Schweisstropfen. Und sein Gesicht war weiss wie eine Talgkerze: «Ich kann nicht mit. Ich muss ins Spital. Ich habe hohes Fieber... geh du erst mal alleine... ich komme nach.» Am Tag zuvor hatte er sich einem harmlosen, ambulanten Eingriff unterzogen. Gottlob von einem klugen Arzt. Der ermahnte ihn: «Wenn Sie Fieber und Schüttelfrost bekommen sollten? SOFORT MELDEN UND AB IN DEN NOTFALL!»
Noch bevor ich etwas sagen konnte, war Innocent verschwunden. Das Taxi brauste davon. Und ich spürte, wie die Panik wie ein Eisgletscher an mir hochkletterte. Dann jagte ich ebenfalls mit dem Taxi ins Spital. Innocent lag bereits auf dem Schragen. Sie hatten ihm Schläuche und Infusionen angehängt. Und er schaute fiebrig: «Mach dich nicht verrückt... du fährst... das hier ist gar nichts... GAAAR NICHTS... Antibiotika und morgen ist alles vorbei... ich komme dann nach!»
Es war acht Uhr morgens. Die Ärzte scheuchten mich aus dem Zimmer («Sie können hier gar nichts helfen... wir geben Ihnen Bescheid»)? und weiss der Himmel, weshalb ich plötzlich auf dem grossen Friedhof stand.
Gut. Basels gigantischer Gottesacker liegt nahe am Spital, in dem Innocent nun mit dem Fieber kämpfte. Und die Anlage hat wunderschöne Spazierwege. Ganz abgesehen davon ruhen hier alle meine Lieben. Und mit ihnen unterhalte ich mich immer mal wieder? nicht nur zur Weihnachtszeit.
Ich irrte herum. Ging am Grab meiner Grossmutter vorbei? dieser Grossmutter, die für mich Weihnachten als Märchen geschaffen hatte. Mit ihr hatte ich als Kleinkind Wunschzettel geschrieben, Goldglimmersternchen aufgeklebt und für das Christkind eine Zeichnung mit einem Engel auf die Geschenkliste gemalt. Der Engel stand in einem verschneiten Wald. Im Wald schaute ein Reh dem Christkind in die Augen.
Natürlich war das Reh verzaubert und konnte alle Wünsche erfüllen? besser noch als das Christkind. Denn das Reh hatte ich mit eigenen Augen in Adelboden gesehen. Wir hatten im Chalet Weihnachten gefeiert. Als ich in der Nacht nochmals aufgestanden war, um den Lichterbaum ganz für mich alleine zu bewundern, da funkelten die Kugeln geheimnisvoll im Holzstübchen. Der Mond schaute wie eine riesige Lichterkugel über den Lohnergipfel. Und der Schnee glitzerte wie ein Eismantel, den sich der Bergriese Wildstrubel übergeworfen hatte? UND EBEN IN DIESEM MOMENT SAH ICH DAS REH.
Es tappte langsam über die Skipiste bis zu unserm Haus. Ich stand am Fenster und hielt den Atem an. Das Reh zupfte mit seinen feinen Lippen am vereisten Rosenstock. Immer wieder hatte Vater getobt, dass die verdammten Rehe nachts seine Rosen fressen würden. Er mochte diese Art von Tieren nur als Pfeffer. Oder in Rückenlage mit Pfirsichen und Heidelbeeren serviert.
Ich hätte so gerne dem Reh eine Rose zugeworfen. Aber natürlich hatten wir keine Rosen. Nur Anisbrote mit krummen Füssen und einer Härte, die bereits für einen Nussknacker zu viel war.
Dennoch öffnete ich zaghaft das Fenster. Und warf so ein betonstarres Anisbrot in den Schnee. Das Reh schaute hinauf. Und jagte davon.
Als ich der Kembserweg-Omi die Sache mit dem Tier erzählte, machte die natürlich sofort eine Oper darauf: «Das Christkind hat dir das Rehlein geschickt. Du darfst ihm alle deine Wünsche erzählen. Die Rehlein sind die Elfen des Christkinds... und helfen den Menschen.»
WEN WUNDERTS, DASS ICH AUF DER WUNSCHZETTELZEICHNUNG EIN REH GEZEICHNET HABE. DAZU EINEN ROSENSTOCK IM SCHNEE.
An all das habe ich vor dem Grabstein denken müssen, als ich begriff, dass es dieses Jahr keine Lichterweihnacht auf der Insel geben würde. Im Gegenteil. Es würde eine traurige, dunkle Weihnacht werden.
Das Fieber von Innocent sank und sank nicht. Sie taten alle ihr Bestes. Aber wenn ich mit Mundschutz und Schutzmantel vor seinem Quarantänebett stand, sah ich, wie die Krankenschwestern mich traurig von der Seite anschauten. Ich musste weg. Und ich suchte die innere Ruhe auf dem Spaziergang über den Friedhof.
Beim Familiengrab blieb ich jeweils lange stehen. Ich haderte mit meinem Vater: «Du liebst ihn doch... weshalb lässt du so etwas zu...»
Der Wind blies auch in jener Nacht, als auf allen Gräbern rote Kerzen flammten und ein riesiger Weihnachtsbaum ins Dunkle leuchtete, über den sandroten Stein? Vaters Freundinnen hatten fünf gelbe Rosen in die grüne Grabvase gestellt.
Ich war mit meinen Gedanken weit weg und hatte die Zeit vergessen. Es war bereits sieben Uhr. Und ich musste mich beeilen, wenn ich die Friedhofstüre noch offen finden wollte. DANN SAH ICH ES WIEDER: das Reh. Es hüpfte über die Gräber. Beugte sich zu den Rosen meines Vaters. Und weg waren die Köpfe! «Mach, dass er gesund wird...», flüsterte ich in den Wind. Da war das Reh auch schon verschwunden.
Als ich am andern Morgen Innocent besuchte, strahlte mich die Stationsschwester an: «Das Fieber ist gesunken... diese Nacht... ich glaube, wir sind über den Berg... frohe Weihnachten.» Da wusste ich, dass Weihnachten nie mehr wie früher sein würde.

Samstag, 18. Dezember 2010