Vom Mord an Winnifried und angewinkelten Beinen...

Donnerstag Als der Mord an Winnifried passierte, war ich gerade mal sechs Lenze jung. Sechs Jahre sind ein sensibles Alter. Man sollte da nicht in Schlächtereien verwickelt sein. Und schon gar nicht, wenn die Schlächter aus den eigenen Reihen stammen.
Um dem Fall gerecht zu werden, ist eine Milieustudie unumgänglich: Es gab eine dezente Seite. Die war stinklangweilig, immer mies drauf und mit dem konstanten Vorwurf «wie konntet ihr mir das antun?» im tränenden Auge.
Wir Kinder mieden Mutters Familie, wo immer wir konnten. WIR KONNTEN ABER NICHT IMMER. Grossmutter hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, aus uns «vorzeigbare Menschen» (wie sie sagte) zu machen. Und so wurden wir einmal wöchentlich ins grosse Haus mit den schweren Vorhängen gerufen. Hier hatten wir am ellenlangen Tisch mit dem polierten Holz, das immer ein bisschen nach Juchte duftete, Suppe zu löffeln. «UND DIES OHNE ZU SCHLÜRFEN, ALS WÜRDET IHR EINEN WEIHER AUSPUMPEN!»
Damals lernten wir auch beim Teetrinken den kleinen Finger zu spreizen und die Beine in einem 45-Grad-Winkel schräg zu stellen, damit der Jupe die Knie immer schön bedeckt hielt.
Ich trug kurze Hosen, gehäkelte Kniesocken und eine Busi-Mütze, sodass sich die schrägen Beine ohne Jupe etwas lächerlich ausmachten? aber Grossmutter fand, man(n) dürfe das nicht so eng sehen.
SO WEIT DIE SCHRÄGE SEITE. UND NUN ZUR GANZ SCHRÄGEN.
Das war Onkel Alphonse. Er brachte Rosie schon als Vierjährige zehn total versaute Wirtinnen-Verse bei, die sie in ihrer Bibelgruppe an einem Elternnachmittag strahlend nach dem gemeinsamen Lied «Die goldne Sonne...» zum Besten gab. GEGEN DAS ZETERMORDIO DANACH HALFEN DANN AUCH DIE 45-GRAD-BEINE NICHTS MEHR!
Als Mutter heulend nach Hause kam und jammerte, sie könne ja nie mehr unter die Leute, gab ihr die Kembserweg-Omi einen gutgemeinten Klaps auf den Allerwertesten. «Ach Lottchen, hab? dich nicht so? Literatur hat noch keinem geschadet. Kennst du übrigens den vom Trämler und der Nonne...?»
DAS WAR ALSO DAS MILIEU!? ALLES KLAR?
Onkel Alphonse pflegte nicht nur die Wirtinnen-Verse, er pflegte auch seinen Garten. Das Ganze war ein Stück Pachtland gleich hinter der Hegenheimer Grenze. Und wenn uns Alphonse auf seinem alten Göppel mitnahm, wenn wir an den Kiesbergen und am Zollhaus vorbeiradelten und der Onkel stolz die Arme ausbreitete: «Da? schaut euch das an! Das ist eine andere Welt!», dann haben wir wohl erstmals so etwas wie Fernweh gespürt, eine Krankheit, die uns ein Leben lang heimsuchen sollte.
In Alphonses Garten war alles das Gegenteil von der andern Seite. Damit will gesagt sein: HIER WAR DAS LEBEN WILD. WILD. WILD. UND VON UNKRAUT DURCHWOBEN! Für ein Kind, das bei seiner Grossmutter gelernt hatte, die Cremeschnitte in viele kleine Teilchen zu gäbeln und das Mündchen nach jedem Bissen mit gestärktem Damast abzuwischen, war das, was der Onkel «mein Freiluft-Scheisshaus» nannte, gewöhnungsbedürftig. Ich meine: Das Ganze war ein Brett mit pfannendeckelgrossem Loch. Darauf sass man.
«AUGEN ZU UND ABDRÜCKEN!», trompetete Alphonse die Gebrauchsanweisung durch.
Da kannst du dann lange die Beine elegant winkeln, das Kommune der Situation holt dich immer ein!
Es gab zwei Dinge, die Alphonse täglich in den Garten riefen: Das eine war Winnifried. Das andere der Schnaps in der verlotterten Holzhütte, wo er vergammelte Liegestühle und angeschlagene Teetassen archivierte.
Winnifried war ein ganz allerliebstes Kaninchen. Er lebte in so etwas wie einem Kleiderkasten, dem der Onkel die Türe aus- und Drahtgitter eingehängt hatte.
Ich durfte Winnifrieds Kuschelpelz streicheln und beobachtete stundenlang verzückt sein Hasennäschen, das hektisch rumschniffte, wie ich es später nur noch bei Koksern oder dann Innocent gesehen habe, wenn er den Schnapskasten nach einem Whisky durchforschte.
Sieben Monate lang habe ich Winnifried Karöttchen angeschleppt, habe ihm die Herzchen unseres Kopfsalats serviert und an Weihnachten gar ein Miniaturtännchen vor seinen Bau gestellt.
Die Familie sah die Entwicklung dieser frühen Tierliebe nicht ungerne und Mutters Seite schmiedete bereits Pläne, wo der Kleine mal seine eigene Tierarzt-Praxis eröffnen könnte...
Doch dann kam dieser schreckliche Ostersonntag.
Die Kembserweg-Omi hatte an den Kembserweg eingeladen. Vor jedem Teller lag ein Epa-Zuckerhase und ein hartes Ei. «Frohe Ostern», sagte die Omi. Und als Alphonse die Gläser gefüllt und in die Hände geklatscht hatte, brachte er aus der Küche eine riesige, dampfende Platte.
«Winnifried wünscht allen ein frohes Fest!», rieb sich Alphonse vergnügt die Hände.
WINNIFRIED!
Man hatte ihm das Fell abgezogen und ihn danach in einen billigen Algerier gelegt. Nun lagen seine Hasenläufe als rosige Happen in der Sauce.
Noch Jahre später erzählte das Quartier von meinen Schreien, welche den friedlichen Ostersonntag zerrissen hätten.
Bis heute rühre ich Kaninchen in Sauce nicht an. Das bin ich Winnifried schuldig. Auch mit Tierarzt war nix!

Donnerstag, 20. März 2008