Vom Luxus, Zeit zu haben und Tortona

Seit wir mehr Zeit haben, sind wir im Fluss.
Wir lassen uns einfach treiben. Manchmal spülts uns hierhin. Manchmal dorthin. Reisen werden nicht einfach nur runtergespult. Wir gönnen uns einen Halt, wo es uns gefällt. Man kann ruhig sagen: Wir leisten uns den Luxus, das Zeitkonto aufzubrauchen. Irgendwann ist eh mal Nullstand.
Früher waren Reisen immer bis ins Detail verplant. Wir galoppierten im Stundentakt. Wenns uns irgendwo gefiel, mussten wir schon wieder weiter. DAMIT IST NUN SCHLUSS.
Irgendein Trottel hat mal gesagt, reich sei man erst nach der 20. Million. Blödsinn. REICH IST, WER GENÜGEND ZEIT HAT.
Die Zeit ist das Kostbarste, was wir besitzen.
UND DAS WAR DAS WORT ZUM SAMSTAG. WIR SCHALTEN UM IN DEN ALLTAG? DANKE FÜRS ZULESEN!
Ich weiss nicht, weshalb Innocent auf unserer Heimreise von der Insel einen STOP in diesem unscheinbaren Städtchen in der Nähe von Alessandria einlegte. Ich vermute stark, es ist die Hoffnung auf einen piemontesischen Tropfen gewesen. Oder ein Aktions-Hotelangebot.
JEDENFALLS WAREN WIR NUN MAL DA. UND WÄREN ES LIEBER NICHT GEWESEN.
Ich blätterte im Guide Michelin nach Besonderheiten des Ortes. Ich blätterte umsonst. Ich machte mich beim Portier des Hotels, das keines war, schlau. Unsere Bleibe mit Doppelbett war eine Schnell-Imbissbude, die direkt über der Fritteuse ein Zimmer vermietet. WUNDERT SICH JA KEINER, DASS INNOCENT DIESES LOCH AUFGESTÖBERT HAT? ES GAB FRITTENDAMPFRABATT UND ZWEI TÜTEN GEBACKENE CALAMARES ZUM EMPFANG.
Der Portier, oder eigentlich der Calamares-Fritter, kriegte sich vor Lachen kaum ein: «Etwas Besonderes an diesem Ort? Sie meinen rosa Kühe oder so was? Tut mir leid? wir können mit nichts Speziellem dienen. Einst hatten wir einen Pfarrer, der nicht schwul war. Aber an der Weihnachtsfeier der freiwilligen Altenpflegerinnen trat er immer wieder mal als Dragqueen auf? das war schon etwas Besonderes. Ich meine: Er trug Pailletten-Höschen von Prada. Aber der Pfarrer hat dann geheiratet. Und seither ist hier nichts mehr los...»
«Mein Gott, kannst du tranig tun», nervte sich Innocent über mein Gemecker. «Ich denke, ihr Schreiber könnt doch aus jedem Mist etwas machen... jetzt gehen wir mal durch den Ort und schauen, was er uns zu erzählen hat!»
Die Geschichten steckten alle hinter verschlossenen Fensterläden und Geschäftsportalen, die uns abweisend ihr CHIUSO-Schild präsentierten.
Es gab allerdings einen offenen Spielsalon, an dem ein paar Rentner stumpfsinnig auf Zahlen stierten, die mit Dlingdlang-Melodien einen Rundtanz aufführten. Einmal machte es «dlaggedidlaggedi»? ein Strom von Euromünzen prasselte in einen Blechnapf. Keiner rührte sich oder schaute hin. Nur der Gewinner angelte gelangweilt eine Münze nach der andern aus dem Napf, um sie oben wieder in den Apparat einzuwerfen.
«Kann man hier etwas trinken?», fragte ich den Spielsalonbetreiber sonnig, der auf einem Barhocker lümmelte und von einem Fernsehschirm gebannt war, wo Pferde um die Wette spulten. Unser Portier hatte nur Cola light an der Theke? mir war nun aber nach einer heissen piemontesischen Schokolade oder zumindest nach einem Espresso mit Milchschäumchen und Kakaopulver (sie nennen das in Italien «marochino»).
«Blschlll»? das war die Antwort des Barhockerhockenden. Und «leck mich»? das war die meine.
Die Strasse führte nun an einem Fabrikhof mit eisernen Blumentöpfen, arschglatten Marmorplatten und herrlichen Friedhofsengeln vorbei. Überall standen weisse und schwarze Grabsteine herum. Es gab auch filigran geschmiedete Kreuze, allerliebste Putos mit diesen gesunden Apfelbackengesichtern und der immer etwas geistigen Abwesenheit im Auge? kurz: der Ort zeigte uns, dass hier Sterben Spass machte. UND HIER DIE GROSSE VORFREUDE AUF DAS EWIGE LEBEN WARTETE. Ein alter, buckliger Mann schlurfte auf uns zu: «Che vuoi...?»? er taxierte Innocent. Dann mich. Schliesslich winkte er uns zu einem marmornen Reigen von lustig tanzenden Engeln. Sie tanzten um einen Strauss in Stein gehauener Stiefmütterchen. Und sahen aus wie eine Reklame vom Hähnchengrill. Das Grabmahl sei günstig abzugeben? lobpreiste der Bucklige den Friedhofsschmetter. Es sei von einem Matrosen aus Genua bestellt worden. Der Matrose sei aber zum Islam übergetreten. Und das gäbe nun 40 Prozent Rabatt? trotz Handarbeit.
Ich zerrte Innocent am Mantel. Er war schon am Rumrechnen und wollte noch ein Schnäppchen runterhandeln..., aber was machen wir mit Stiefmütterchen am Grab, wo wir beide eher die rosigen Typen sind. Eben.
Das Städtchen hatte dann doch noch einige Überraschungen im Köcher: eine gemütliche Arkadenstrasse mit einer Drogheria, in der sie flüssiges Fernet Branca als Karamellen und den neuen Papst als Lollypop feilboten. Dann gabs eine wunderbare Pizzeria mit hausgewallten Nudeln und weissen Trüffeln zu 15 Euros die Portion (UND DAMIT WAR DER TAG GERETTET!). Es gab erstaunlicherweise sieben Eisbuden, die selbst bei 3 Grad minus einen Riesenansturm an gelatoleckenden Tortonanern zu befriedigen hatten. Und es gab ein Cinema aus den Fünfzigerjahren, in dem ein Softporno alternierend mit «Don Camillo und Pepone» lief.
Wir sassen auf der Piazza delle Erbe und genossen die ersten warmen Februar-Sonnenstrahlen? «und?», stiess mich Innocent nun triumphierend in die Seite, was sagst du jetzt? Jeder Ort hat seine Besonderheiten. Man muss sie nur entdecken. Und Zeit dafür haben!» ICH HASSE ES, WENN ER IMMER RECHT BEHALTEN WILL.

Samstag, 12. Februar 2011