Vom Lied und Leid, in einer Grossstadt zu leben

NEIN. NICHT SCHON WIEDER!!
Roms Zentrum ist zum Treffpunkt der Demos geworden.
O.k. Das ist auch in Paris oder London so.
Die Metropolen von Europa sind entweder ­Disneyland für Touristen. Oder Arenaplatz für Chaoten und Demonstranten. Die wenigen Bewohner, die hier noch im Zentrum vegetieren, werden wegdemonstriert. Unter dem Motto: «MEHR LEBENSQUALITÄT FÜR ALLE.»
Das normale Alltagsleben im Herzen einer Millionenstadt liegt schon längst unter den Schweisssöckchen der Touristenherden begraben. Und wo einst in lustigen Kleinläden köstliche Würste aus Kalabrien, eingelegte Auberginen aus Apulien und honigsüsser Torrone von Sizilien den römischen Innenstadtbewohnern das kulinarische Überleben erleichterten, winkt nun im Souvenirshop Papa Ratzinger von einer Postkarte in Multicolor. Sein wellaweisses Haar ist von künstlichem Heiligenschein umkreist. Die roten Socken muss man sich denken. Denn Ratzinger ist als Postkarte nur bis zum Bauchnabel erhältlich.
Neben geweihten Rosenkränzen, Zapfenziehern mit der heiligen Mutter sowie Kleinstfläschchen mit gepanschtem Olivenöl erinnert im Laden höchstens noch die Souvenirpasta daran, dass da früher Barilla Nummer 5 verkauft wurde. Die Spaghetti sind in den italienischen Landesfarben erhältlich. Gekocht gibt grün-rot-weiss dann allerdings einen grausamen Matsch ab? und symbolisiert so den chaotischen Zustand des Landes.
Wer heute Lebensqualität will, lebt in einer Kleinstadt wie Zürich oder in der Kleinststadt Basel. ABER NICHT IN EINER MILLIONENMETROPOLE. Denn dort hat sich das Alltagsleben schon lange alltagsüberlebt.
Die Kanalisation stinkt, dass Gott erbarm. Und wenn eine alte Nonna ihr Campingtischlein? wie von Fellini so gerne und oft in Szene gesetzt? dennoch aufs Trottoir stellt, um der Familie die Pizza unter freiem Quartierhimmel zu kredenzen, dann kommt heute eines dieser blau-weissen Autos der POLIZIA angejagt. Das nervöse Lämpchen, das wie eine böse Warze auf dem Dach festklebt und mit hektischem Gefunkel auf sich aufmerksam macht, kündet ein Verbot oder einen drittklassigen Beamten mit Eskorte an. ­VERBOTE UND BEAMTENAPPARAT WUCHERN AUCH HIER!
Das Tischchen wird also mit tausend Flüchen auf die Regierung zusammengeklappt. Und die Pizza in der stickigen Küche vor dem Fernseher rein­gezogen? zumindest dieses Klischeebild von der stets tosenden TV-Kiste über der Makkaroni­schüssel hat sich erhalten können. Dazu kommen jetzt noch ein halbes Dutzend fiepender iPhones. So etwas hat Fellini gottlob nicht mehr erleben müssen!
ABER NUN ZUR DEMO.
Da die Bewohner des Centro ­Storico nur noch ­Parmaschinken abgepackt im Klarsichtsfolienmantel bekommen (der Geschmack geht total zur Sau), bin ich genötigt? wenn ich die Supermercati umgehen will?, irgendwo acht Kilometer vom Pantheon entfernt einen Quartiermarkt aufzusuchen. Weg vom ­Zentrum bekomme ich dann alles messerfrisch geschnitten und herrliches Gemüse aus den Holzharassen. Dazu gibts gratis die guten Wünsche der schlitzohrigen Marktfrau Maria-Rosa, die mich immer mit demselben Gruss willkommen heisst: «Oh... lo svizzero ricco!» Wie alle Menschen auf dem Stiefel ist sie der irrigen Meinung, dass jeder Schweizer mindestens mehrfacher Millionär sei. Und die Banken das weggeschleuste Schwarzgeld ihrer Italiener unter den Eidgenossen wie einst Jesus das Brot verteilen würden.
Natürlich haut sie mich übers Ohr, indem sie nie richtig abwägt, alles im Kopf zusammenrechnet und schliesslich eine übertriebene Pauschalsumme durchgibt. Aber das ist mir so was von egal. SIE HAT DIE SCHÖNSTEN TOMATEN, KÜRBISSE UND ARTISCHOCKEN! Und vor allem weht hier das urgemütliche Italien, das man sonst nur noch in Provinzstädten findet. Die Lust am Einkaufen galoppiert durch? und schon stehe ich mit acht riesigen Plastiksäcken da. JETZT DAS GRAUEN DES TAGES: kein Taxi. Kein Tram. Kein Bus. Der Schreckensschrei geht wie ein Buschfeuer durchs Volk: DEMONSTRATION IM CENTRO!
Danke. Hätte das ja wissen müssen. Es ist immerhin die 78. Demo in diesem Jahr. Samstag und Sonntag wird in Roms Centro nämlich nonstop demonstriert. Und dabei der öffentliche Verkehr lahmgelegt.
Während Polizeihelikopter wie vorlaute Riesenvögel am Himmel herumrattern und gemütlich den Stand der stehenden Kolonnen durchgeben, marschiere ich acht Kilometer zu Fuss. PLATTFUSS? MUSS MAN SAGEN. Am Arm: 23 Kilo Ware vom Aussenquartier.
Von Weitem schon sehe ich den ellenlangen Menschenzug mit den roten Fahnen. Dieses Mal gehts um den Verkehr in der Innenstadt. Man will ihn verbieten. Nur Velos sollen Grünlicht bekommen. Aber wer je auf Roms holprigen Innenstadtpflastersteinen geradelt ist, weiss: Da geht dir dann wirklich der Sack ab! Meine Nerven liegen blank. Ich brülle einen dieser Protestheinis an: Ich sei alt. Arthrose nage an meiner Schulter. Die kleinen Finger seien geschwollen dick wie sizilianische Würste. Und wie unsereins so einen Einkauf von 23 Kilo ohne Hilfe von Automobil oder Bus im Centro schaffen soll?! Der Demo-Mann mustert mich ­bissig: «Du fetter Sack, friss weniger... und verpiss dich!»
JA HALLO? JETZT KÖNNT IHR ABER DREI MAL RATEN, WAS ICH DEM GEHUSTET HABE!
Nichts. Ich habe mich still verpisst.
Und machs künftig wie alle andern, die in der Grossstadt leben: den eingeschweissten Parmaschinken vom Supermarkt aus dem Folienbeutel schälen. Auch wenn dabei alles zur Sau geht...

Sonntag, 14. Oktober 2012