Vom Licht in der Finsternis

Es war finster in der Wohnung.
ES WAR IMMER FINSTER.
Horst sass in seinem ledernen Fauteuil.
Und hörte den Gesang aus der Nebenwohnung.
Die Müllers eierten durch «Oh du Fröhliche». Mehr schlecht als
recht.
Horst stöhnte leise auf. Eine kalte Hundeschnauze stupst ihn an. Lara. Er streichelte den Kopf des Labradors: «Es geht schon Lara... für einen Moment ist mir die Decke auf den Kopf gefallen... aber das kriegen wir alles wieder hin!»
Horst erhob sich aus dem Sessel. In der rechten Hand hielt er nun das Hundegeschirr.
In der linken den weissen Stock. «Wir beide brauchen frische Luft.» Der Hund führte ihn zum Lift.
Als sie nach unten surrten, waren die Müllers bei «Stille Nacht» angelangt.
Langsam gingen sie durch die Stadt, die leise atmete. Manchmal hörte Horst das Heranrollen eines Trams. Manchmal auch hastige Schritte, die über den Asphalt eilten. Als der Hund mit dem Mann jedoch in die Altstadt eintauchte, als sie den Berg zum Münster unter die Füsse nahmen? da war es plötzlich still. «Wie eine Totenstadt», flüsterte Horst zu Lara.
Es war ein milder Heiliger Abend. Kein Schnee. Die Skiorte jammerten. Aber Horst war es recht so. Schnee war für blinde Menschen immer wieder ein Hindernis. Rutschgefahr. Die weissen, kalten zusammengeschaufelten Haufen mitten auf der Strasse... drei Mal war er gefallen. Nein? er mochte die verschneite Stadt nicht.
Früher waren Linda und er an Weihnachten immer zum Skifahren in die Berge gefahren. Sie waren beide sportlich gewesen? keine Romantiker. Es gab keinen Weihnachtsbaum, keine Geschenke? sie besuchten stets dasselbe Hotel. Sassen jeweils im Speisesaal.
Bei Kerzenlicht und Weihnachtsmenü.
Es war Filet im Teig. Immer Filet im Teig. Und den beiden wars recht so. Sie hatten keine Kinder? sie brauchten für niemanden das Christkind-Theater zu spielen. Am andern Tag gings wieder auf die Piste? und am 3. Januar heim.
Horst war Instrumentenbauer. Stundenlang sass er vor seinen Piccolos und Querflöten. Da brauchte er die Bewegung.
Und den Sport. Eines Tages hatte er die winzigen Schräubchen zu den Klappen nicht mehr klar gesehen.
«Neue Brille!», brummte er. Aber es wurde schlimmer. Sein Augenlicht war durch Schatten getrübt. Der Arzt war ratlos. Und der Spezialist eröffnete: «Es ist eine schrittweise Erblindung... man kann nicht viel machen.»
Zuerst behielt er alles für sich. Wollte zuerst einmal mit der Situation klarkommen, bevor er Linda damit konfrontieren würde. Sie aber spürte die Veränderung in ihm. Immerhin waren sie bald 30 Jahre verheiratet. Da kennt einer den andern besser als sich selber.
Sie gab ihren 50-Prozent-Job als Apothekerhelferin auf. Und blieb bei ihm zu Hause. Er arbeitete nun in seinem Bürozimmer? und er arbeitete gut. Die Musiker schätzten ihn. Und es schien, als sei sein musikalisches Ohr nun noch schärfer als zuvor.
Die Blinden-Hilfe versuchte ihn auf das vorzubereiten, was ihn erwartete. Er las keine Bücher mehr. Er hörte sie. Und er nahm das Wenige, das er noch sah, intensiver wahr denn je. Er war wie ein Schwamm, der alles noch aufsog, was er sehen konnte. Und dann erlosch das Licht. Und es war finster.
Für immer.
Dank Linda kam er gut zurecht. Eines Tages kam sie vom Einkaufen nicht zurück. Er war unruhig. Schliesslich stand ein Polizeibeamter in der Wohnung.
Und erklärte ihm, es hätte einen Unfall gegeben. Linda sei im Supercenter die Rolltreppe runtergefallen.
Der Polizeimann führte ihn an ihr Krankenbett. Horst fühlte ihre Hand.
Und wusste, dass nichts mehr sein würde wie vorher.
Linda schlief einen langen Traum.
Manchmal erwachte sie aus ihrem Koma. Aber ihre Augen waren weit weg. «Wir wissen nicht, was sie hört und sieht», sagten die Ärzte, «aber reden Sie mit ihr...»
Wieder waren es die Leute von der Blinden-Hilfe, die ihm zur Seite standen.
Sie brachten ihm Lara. Der Hund wurde sein sehendes Ich. Und sein bester Freund. Täglich führte er ihn zu Linda. Ans Krankenbett. Und zu Hause, wenn Horst die Dunkelheit in und um sich nicht mehr ertragen konnte, war Lara es, die ihn mit ihrer kalten Nase anstupste. Und tröstete.
Der warme Föhn wehte nun heftiger.
Horst atmete durch, spürte den offenen Platz? sein scharfes Ohr hörte noch das gefährliche Summen herannahender, schnell drehender Velospeichen. Dann fühlte er einen Stoss. Und fiel zu Boden.
Sein Kopf schlug hart auf. «Nein. Das darf nicht sein», war das Letzte, das er dachte, «ich muss für Lara da bleiben...»
Als er wieder zu sich kam, hörte er Stimmen: «Der Hund hat uns alarmiert... er stand vor dem Haus? wir hatten die Weihnachtsfeier für Obdachlose... und plötzlich war da dieser Labrador und bellte...»
Die Menschen, die da redeten, waren weit weg. Wieder hörte Horst Weihnachtslieder.
Dazu Orgelmusik. Dies alles musste aus der grossen Kathedrale kommen. «Er ist wieder bei sich...», sagte eine der Stimmen. Und Horst öffnete die Augen. Für einen kurzen Augenblick sah er den Weihnachtsbaum? eine riesige Tanne, welche die Stadt auf dem Platz aufgestellt und mit Tausenden von Lichtern geschmückt hatte. Die Lichter blendeten Horst. Und doch war es das Schönste, das er je auf dieser Welt gesehen hatte? ein funkelndes Leuchten, das sein dunkles Inneres erwärmte. Und ihm helle Hoffnung schenkte. Hoffnung und Freude. Plötzlich spürte er die kalte Nase. «Lara», lächelte er.
Die Leute halfen ihm auf die Beine, wollten ihn heimbringen? er aber bedankte sich: «Sie haben schon so viel für mich getan. Ganz herzlichen Dank.
Doch Lara und ich kennen den Weg? geniessen Sie das Weihnachtsfest!»
Als er daheim die Haustüre aufschloss, hörte er eine Stimme von der Nachbarswohnung:
«Herr Lang... Um Himmelswillen! Sie bluten am Kopf. Ich hole rasch ein Pflaster. Was ist passiert?!»
Er schaute zu der Stimme der Nachbarin:
«Ich habe den schönsten Weihnachtsbaum gesehen... es war ein einzigartiges Licht.»
Und seine toten Augen strahlten.

Samstag, 24. Dezember 2011