Mittwoch - Als ich Marlenchen sah, wars gleich Abneigung auf beiden Seiten. Um ehrlich zu sein: Ich fand Marlenchen im grellen Fiorucci-Outfit zum Kotzen. UND SIE MICH IM TRAINER-LOOK AUCH.
«Ist sie nicht wunderbar?», flötete Cindy. «14 Jahre - das schönste Alter!» Sie hielt die aufgetakelte Marlene wie ein Schutzschild vor ihr Chanel-Kostüm.
Das Röckchen war für eine 14-Jährige zu kurz und die Dralon-Wimper zu lang.
Ich überwand alle inneren Spannungen - Augen zu und durch: «Hallo Marlenchen!»
«Ich heisse Maryleen», kams wie ein Pistolenschuss. Sie sagte gestelzt «Märiliiin.»
Da wusste ich, dass wir noch viel Freude aneinander haben würden?
Donnerstag - Der Sache mit Marlenchen ist ein Telefongespräch vorangegangen. Cindy war am Apparat. Eigentlich heisst Cindy Cäcilia. So jedenfalls haben wir sie in ihrer pubertierenden Zeit genannt. Cäcilia ist der Spross eines Dittinger Dorfpolizisten. Dieses knüppelharte Umfeld war sicher nicht unschuldig daran, dass sie als junges Mädchen bei der 68er-Revolution auf den Tramschienen sass. Man ist nicht ungestraft eine Polizistentochter. Auch nicht Trämlerstochter. So hockten wir nebeneinander. Und kämpften für die gute Sache.
Aus Cäcilia wurde Cindy. Das war nach ihrem Trip durch Südamerika. Cindy angelte sich einen reichen mexikanischen Bohnenpflanzer, verpflanzte ihn nach Zürich - und lebt seither in Jet und Set und Chanel 5.
Die revoluzionäre Basler Tramschienen-Zeit tut Cindy (ehemals Cäcilia) als «Verirrung in jugendlichem Übermut» ab. Als ich ihre mexikanische Begattungsbohne zum ersten Mal sah, hätte ich mir gewünscht, Cindy wäre auf den Schienen geblieben.
Nun also das Telefon von Zürichs funkelnder Goldküste: «Hi Honey!»
Cindy tönt seit Mexiko stets wie der Beginn einer amerikanischen Soap Opera. «Bill und ich werden auf eine Kreuzfahrt gehen?» Ich sehe in Gedanken drei proppevolle Container mit Vuitton-Koffern.
«Maryleen will nicht mit? das Publikum ist ihr ein Kreuz auf der Fahrt. Einfach zu alt, sagt sie.» Marlenchen war schon immer Scheisse. Weiss der Teufel, weshalb ich Ja gesagt habe, als man mich zu ihrem Paten vorschlug. Als Dreijährige hat sie mir das Gartenhaus abgefackelt, mit sieben Lenzen meinen ganzen Kondomvorrat aufgeblasen und als Elfjährige während der Ferien in Basel täglich auf meinem Telefon drei Stunden lang mit ihrem Lover telefoniert. Der Lover wohnte in Salt Lake City (Staat Utah) - die Telefonrechnung bezahle ich heute noch ab.
«? da habe ich gedacht: Maryleen ist doch so gerne in Basel bei Innocent und dir. Und so ein Monat ist ganz schnell vorbei?» - das war die Dittinger Polizistentochter mit Chanel-5-Wolke.
Und die dumme Kuh von einer Trämlerstochter hat wieder mal nicht nein sagen können. Obwohl tausend Antennen ALARM? ALARM? ALARM funkten, säuselte ich. «Aber klar doch - alles kein Problem. Bring die Göre!»
Deshalb nun: «Hallo Marlenchen!»
«ICH HEISE MARYLEEN!» In diesem Augenblick schlurbt Linda um die Ecke. Die Gute hat wieder Lockenwickler in ihre Nylonfriese eingerollt. Sie will beim Postmann den Eindurck von «echt haarig» erwecken. Linda steht nämlich auf den geilen Briefträger mit dem heissen Moped, wartet ihn jeden Morgen ab, um dann lässig vor der Türe den Morgenrock fallen zu lassen. JA BENIMMT SICH SO EINE DAME, DIE SCHON SEIT 20 JAHREN RENTE BEZIEHT?!
«Was will dieses schrillig gemaltes Vogelscheuchiges hier?», nölt die aufgewickelte Hausperle nun in Richtung Cindy. «Und dieses ungezogenes Balg kommen mir nicht ohne Valiumpackung in Haus?» Dies ging in Richtung Marlenchen. Seit das Girl ihr die Enthaarungscreme mit Zahnpasta ausgetauscht hat, sind die zwei einander besonders nah.
«Marlenchen wird für einen Monat unser Gast sein», mache ich auf gute Stimmung.
«MARYLEEN» - knurrt die Kleine.
«Ich schreib sofortiges Kündigung», tobt Linda.
«Ja wen haben wir denn hier?», betritt Innocent nun unschuldig die Szene. «Ist das nicht unser kleines Marlenchen?»
«FUCK YOU!» - das war die Antwort von der Fiorucci-Göre. Und von den Lockenwicklern. Synchron.
Samstag - Die Lösung war einfach: Ich bin mit Marlenchen an die Zürcher Goldküste gezogen. Hier geniesse ich Seeblick. Und werde nonstop mit dem penetrierenden «BUMM? BUMMM? BUMMM» von Marlenchens Techno-Sound durchgerüttelt.
Das Girl telefoniert täglich neun Stunden auf dem hauseigenen Apparat mit Lover Nr. 9. Dies nun ohne mein Budget und meine Nerven zu belasten. Der Mann heisst übrigens Enrico und lebt in Australien.
Nun hat sich Marlenchen für die Club-Night aufgebrezelt und schwirrt in genietetem Lederjupe herein. Sie drückt mir einen Kuss auf die Nase.
Ich stecke ihr eine Packung Verhüter zu: «Früher hast du mir die aufgeblasen», grinse ich Marlenchen an.
Sie grinst zurück: «As time goes by. Thanks honey? und tschüüüs!» «Bye, bye - Maryleen?», sage ich.
ICH SAGE «MARYLEEN».
Man muss Kompromisse machen können.