Vom Fussballfieber auf der Insel und Nettchens «Hopp Schwiiz»

Donnerstag An jenem Tag, als ich noch guter Hoffnung war und meine Tante erwartete, wusste ich gleich, dass alles schiefgehen würde.
Erstens war mir frühmorgens der Kaffeesatz aus der Maschine direkt auf den Boden explodiert. Er verbreitete sich sternförmig über der ganzen Küche aus. Und ich muss euch ja nicht drei Mal erklären, was der Stern im Kaffeesatz bedeutet:
UNGLÜCK INNERT 24 STUNDEN? AB SOFORT. Ich also ran an den Besen. Kopftuch über. Schon scheppert der Eimer? und Innocent fliegt in hohem Bogen darüber. Sein Blick war stierstur auf eine halbe Flasche Montepulciano gerichtet? nun liegt er noch immer mit gestauchtem Knöchel und kühlen Essigwickeln in der Gegend herum. Statt auf einer toskanischen Insel wähnen sich unsere Besucher bei seinem miefelnden Sauerwickelgestank in einer norddeutschen Gurkenfabrik. Also, ich wusste es, als der Kaffeesatz Sterne warf. Und ich ahnte es gleich nochmals, als ich meine Tante Nette, die einzige Schwester meines Vaters und was von ihm übrig geblieben ist, am Flughafen abholte: DER TAG LÄUFT AUS DEM RUDER.
Nettchen hatte Verspätung. Doch als sie dann erschien, hatte ich den Gong. TRUG DOCH DIESER KLEINGEWACHSENE GNOM EIN ROTFLAMMENDES SENNENKÄPPCHEN AUF DEM SCHÜTTERN HAAR. AUF DER MÜTZE WAR VON FLEISSIGEN MASCHINEN IRGENDWO IN CHINA «HOPP SCHWIIZ» EINGENADELT WORDEN.
Nettchen schwang dazu ein Schweizerfähnchen. Das einzig Gute: Der Zollbeamte wurde bleich, schlug das Kreuz und winkte sie durch. Und bei easyJet hatte die Tante in dieser Aufmachung auf dem Sonderstühlchen «für Schwangere, geschlagene Kinder und abartige Fälle» Platz nehmen dürfen.
Natürlich kannte ich Nettchen nicht, als alles um mich herum zu kichern und zu kreischen begann. Ich machte mich pfeifend aus dem Staub. Dann schickte ich ihr vom Parkplatz ein SMS:
«ENTWEDER DU SPRITZT DICH SOFORT UM? ODER DU SCHWIMMST AUF DIE INSEL!»
Als ob ich nicht schon mit den roten Zopfmustersocken ihres Bruders genug Ärger gehabt hätte. EIN LEBEN LANG LITT DAS KIND. Und jetzt, wo die roten Socken begraben sind, führt die Tante das Leiden mit einem HOPP-SCHWIIZ-Käppi weiter...
«Komm mir nicht so!», fauchte sie im Auto. Und stemmte sich in eine Joga-Sitzposition, was bei einer Beingrösse von zwei Leberwürsten kein Kunststück ist. «Ich bin gesotten genug... der Köbi hat viel zu wenig Leute aus Basel aufgestellt. DEM FEHLT DER DURCHBLICK TOTAL. Das gibt ein Fiasko, sage ich dir, ein FIASKO. Ich habe ihm geschrieben. Aber der bügelt die Welt ja nur noch im Werbefernsehen auf. Keine Antwort. Kein gar nichts. Die werden ganz krass ins Offside laufen...»
WIE GESAGT, DAS WAR VOR DEM GRAUENVOLLEN FREI-STOSS, DER DIE WELT ENTSETZTE!
Auf der Hinfahrt stierte Nettchen gebannt auf ihr Handy. Mein Vetter Markus hockte im Stadion und puzzelte jede Einzelheit seiner Mammi mit Gepiepse direkt durch. Der Vetter wird 50. Die Mammi bekommt demnächst den Ohrensessel der Regierung.
Ich versuchte der Tante die Schönheit der Umgebung zu zeigen. «Das dort sind echte Maremma-Kühe!»
«Die Gigi ist auch am Eröffnungsmatch!»
«Wenn du geradeaus schaust, siehst du die Figuren von Niki de Saint Phalle im Felde funkeln...»
«Sie haben einen Italiener als Schiedsrichter. Wird mir auch eine Rübe sein. Man weiss ja, was die Italiener für welche sind!»
Zu Hause gabs eine Hundertstelsekunden-Umarmung für Innocent. Dann kletterte die Kleinwüchsige auf den Fernsehstuhl. Kippte sich das Käppi zurecht. Ergriff die Fahne und schmetterte die Hymne, dass wir die nächsten zehn Tage vor Wildschweinen Ruhe hatten.
Bald einmal bekam der Schiedsrichter aus Turin alles ab! Er wurde zum Watschenmann von Nettchen und als er dann diesen Elfmeter nicht gab, den er «VERDAMMICH NOCHMALS!» absolut hätte geben müssen, warf die Tante mit der Erdnussschale um sich: «Der ist doch bestochen bis in die Zehen... man kennt ja diese Brüder... Mafia und Co...»
Innocent reichte ihr schweigend ein Coramin. Er war in sein Buch über «Metaphysik im Weltall» vertieft. Und eines muss man ihm lassen: Er hat die Pein meiner Familie stets mit derart stoischer Gleichgültigkeit ertragen, dass er vermutlich im übernächsten Jahrhundert heilig gesprochen wird. Als der turinesische Schlusspfiff ertönte und selbst der deutsche Sprecher zugeben musste: «So hat die Schweiz noch nie!», da hatte Nettchen Tränen in den Augen: «Das haben sie nicht verdient... das nicht. Mit mehr Baslern wäre das nie passiert...»
Plötzlich schaute sie zum Fenster: «DA IST JA DAS MEER! WESHALB HAST DU MIR NICHT GESAGT, DASS WIR AM MEER SIND? UND MÜCKEN HAT ES AUCH!»
Es scheint, dass Nettchen gegen beides allergisch ist.
Innocent schob dem Coramin wortlos einen Spray mit ANTIBRUMM nach.
Ich machte der lieben Tante einen Tee. Halb Kamille, halb Valium. Das Arsen war gerade ausgegangen...

Donnerstag, 26. Juni 2008