Vom ermordeten Alten und dem Gipfel des Präsidenten

Gestern haben sie den Alten ermordet. Quasi direkt vor unserer Türe. Und keiner hats gemerkt.
Der Alte heisst Bodo. Jedenfalls nennen ihn alle so.
«Ciao Bodo», rufen die Mädchen ihm zu, bevor sie morgens zu ihren Computern eilen.
«Ciao Bodo»? grinsen die Strassenputzmänner, die früh schon mit ihren Spritzkarren ankurven. Und um Bodo einen sorgfältigen Bogen ziehen? damit sein Schlafsack trocken bleibt.
Die kleinen, versoffenen Schweinsäugchen des Alten strahlen dann auf, als würde die Sonne sich im Meer spiegeln: «Ciao Ragazze! Ciao Ragazzi.»
Doch an diesem Morgen kein «Ciao». Keine Strahlenäuglein.
Nichts.
«Er pennt noch», werden sich die Mädchen gedacht haben.
«So schön sollte mans haben...», hat einer der Saubermänner einen Witz gerissen. Und Richtung Bodo gezeigt.
Der lag eingemummelt wie immer in seinem verlumpten Schlafsack, den ihm die alte Cartucci geschenkt hat. Bodo also lag in seinem Cartucci-Schlafsack und nichts bekam ihn wach. Auch nicht unser Portiere Franco, als der ihm in Gönnerlaune (AS Roma hatte gewonnen!) ein mit dicker Vanillecreme gefülltes Cornetto zustecken wollte. Da aber hat Franco den rostroten Fleck entdeckt.
Eingetrocknetes Blut. Und nun haben ihn auch die Augen von Bodo angeschaut? diese Augen, die immer so fröhlich blitzten und nun wie zwei milchige Wachteleier ins Leere stierten.
«Merda!», zischte Franco. «Merda!»
Dann jagte er in seine Portiere-Loge. Und alarmierte die Carabinieri: «Sie haben Bodo umgebracht? assassinato!»
Die Polizei wollte zuerst wissen, wer Bodo sei. Und der Portiere brüllte in den Hörer: «Er ist tot? ihr Arschlöcher. Soll ich euch zuerst seine Geschichte runterbeten oder schickt ihr sofort einen Wagen?
Sie haben ihn einfach kaltgemacht? und die Schachtel ist auch weg...» Franco drückte die «Aus»-Taste und heulte auf wie ein geschlagener Hund: «Che mondo... was für eine Welt. Und alles nur wegen ein paar Lire... wo leben wir denn?»
Die Carabinieri liessen sich Zeit. Das heisst: Es war kein Durchkommen. Auch nicht mit Blaulicht.
Schuld hatte der Staatschef. Der kleine Mann mit dem grossen Haarproblem (und vielen andern Problemen mehr) wohnt nur ein paar Häuser weiter.
Es ist dieses Haus, wo die lustigen Partys stattfinden.
Und stets eine Armee von Sicherheitsbeamten das kostbare Leben des Capo bewachen.
Also: SILVIO HATTE DIE IDEE, DIE CAFFEEBAR AUFZUSUCHEN. Silvio geht stets in diese Bar am Corso Vittorio. Das beweist ein Bild im Goldrähmchen, das den Barbesitzer samt Barista zeigt. Zwischen den beiden demonstriert Berlusconi sein Atomkraftlächeln? STRAHLEND... STRAHLEND... STRAHLEND.
Wenn der Presidente Lust und Laune hat, den Gipfel an dieser Bar zu kauen, lässt er ein Gipfeltreffen organisieren. Er meldet diesbezügliche Wünsche einem seiner Sekretäre. Der ruft zuerst die Medien an: «Der Alte will wieder mal unters Volk...»
Dann telefoniert die Sekretärin der Sekretärin des Sekretärs in die Bar: «Un caffè macchiato per il capo!»
Und fünf Minuten später bricht der Verkehr in Rom zusammen, weil die Presse den ganzen Corso blockiert. Fernsehstationen bauen Kameras auf. Und die Touristen geben den Rest? ja was soll ich euch sagen: Marktplatz-Morgestraich-Gewimmel. Dies allerdings bei Tageslicht und mit nur einer Einzelmaske.
UND DESHALB WAR AUCH FÜR DIE MORDKOMMISSION AN JENEM TAG KEIN DURCHKOMMEN MEHR. DENN DIE LEBENDE KATASTROPHE HAT IMMER VORRANG.
Immerhin? als die Ermittler dann da waren, haben sie nicht lange gefackelt. Keine Fingerabdrücke genommen. Nicht rumgepudert und Notizblöcklein gezückt. Sondern sie haben fast traurig die Schultern gehoben, «ebe!» geseufzt? und den Leichenwagen gerufen.
Ein Blick auf den zerrissenen Schlafsack, auf die zwei Tetrapacks mit Billigfusel und auf eine geöffnete Sardellenbüchse hat ihnen genügt. Auch die Geschichte von Bodo wollten sie nicht mehr hören.
Obwohl die spannender war als alle Soap-Operas von Canale 5.
Bodo war (wie so viele) aus dem einstigen Ostblock ins Zentrum der Kirche geflüchtet. Er erhoffte sich hier eine bessere Welt? das Fernsehen und die Bibel hatten es ihm stets so vorgegaukelt. Aber er fand weder Arbeit noch den Frieden? so gings mit ihm stetig bergab. Die letzten vier Jahre hat er sein Domizil (na ja, eigentlich seinen Schlafsack) vor dem Supermercato der Strasse aufgeschlagen. Gebettelt hat er nie. Aber die Italiener sind gute Seelen. Und haben ihm immer wieder mal ein paar Münzen in die Kartonkiste geworfen.
Bodo hat sie mit seinem Lächeln belohnt? ein Lächeln, das zwar nie so strahlend war wie dasjenige des Presidente, das aber den Menschen dieses bisschen Wärme schenkte, welches ihnen durch den Alltag half.
Heute erinnert in unserer Strasse nichts mehr an Bodo. Sie haben ihn in einen Sack gesteckt. Den Reissverschluss zugezurrt. Und weg!
Die ersten paar Tage hat an der Stelle, wo der Cartucci-Schlafsack lag, noch eines dieser roten Grabkerzchen mit Batterienlicht gefunkelt.
Jemand hat ein paar Margeriten dazugelegt. Aber dann war auch dieser letzte Gruss verschwunden.
Der Spritzkarren zieht keinen Bogen mehr. Er spült jeden Morgen das Gestern aufs Neue weg? so auch diese Geschichte.

Samstag, 19. Juni 2010