Die Kinder im Hafen rennen ihm nach. Klopfen auf seinen Buckel. Und jagen kreischend davon.
Carlo schaut ihnen lächelnd nach.
Ein Leben lang hat man seinen Buckel als Glücksbringer benutzt. Es stört ihn nicht mehr. Und es waren viele Jahre lang die einzigen Berührungen, die er von andern Händen zu spüren bekam. KEIN STREICHELN. KEIN UMARMEN. Aber immerhin: EINE MENSCHLICHE BERÜHRUNG!
Zu seinem Buckel kam ein Klumpfuss. Seine Mutter hatte geschrien und das Kreuz geschlagen, als die Hebamme ihr den krummen Frischgeborenen an die Brust drückte. «Che Disgrazia!»? das ist die Strafe, weil ich seinen Vater nicht kenne! Sie wimmerte in ihr Kissen: «Der Knabe wird mich ein Leben lang an den Leibhaftigen erinnern»? doch ihr Leben sollte nur noch zwei Stunden dauern. Sie verblutete, nachdem Carlo entnabelt worden war.
Der Junge wuchs in diesem kleinen Hafenort auf, den die holländische Königin Mutter eines Tages auf einer ihrer Reisen entdeckt hatte. Und dann zu einem mondänen Ferienort machte.
Carlo hatte keinen Gewinn von der Ricchezza, die nun mit den Reichen und Wichtigen über den kleinen Ort einbrach. Schon als Kind war er früh morgens an den Hafen gehumpelt. Wartete auf irgendein Wunder. Abends war er schon zufrieden, wenn einer der Fischer ihn auf den Kutter mitgenommen hatte. Meistens musste er beim «Pulire» der Fische mithelfen. Als Lohn bekam Carlo eine Handvoll Fischabfälle, aus denen er sich eine köstliche Zuppa zubereitete. Und über welche Padre Pino das Lob wie einen Segen ausgebreitet hatte: «Carlo, das Gericht kommt direkt vom Himmel», obwohl der Priester doch wusste, dass es direkt aus den Tiefen des Meers stammte.
Es war auch der blutjunge Padre Pino, der sich des Buben annahm. Und ihn zu seinem Messdiener machte. Immer am 2. Juni, wenn am Hafen die Holzstatuette von San Erasmo, dem Heiligen des Ortes, aus der Kirche zum Porto geführt wurde, war Carlo es, der den 100 Pfund schweren Erasmus auf seinem breiten Buckel trug. Der Bucklige war begleitet von Tausenden von Kerzen sowie Don Pinos Segen, der durch ein Megafon in alle Gassen hinausgetragen wurde. Es war auch Carlo, der? wie es der Brauch verlangte? den etwas schäbigen Holzheiligen schliesslich ins meist noch kalte Meerwasser trug. 30 Meter vom Ufer entfernt wurde San Erasmo von einem mit bunten Glühbirnen und weissen Gladiolen geschmückten Fischerboot aufgenommen. So fuhr die verehrte Holzfigur auf dem Schiff unter dem Gesang der Frommen ins Meer hinaus, um alle diese Stellen zu segnen, wo den Fischern noch ein paar der letzten erbärmlichen Orate oder Spigole ins Netz gehen sollten? denn längst schon war das Meer ausgefischt. Und voll von Bierflaschen, Blechdosen und allerlei Hausrat, der so auf die Schnelle entsorgt worden war.
Für Carlo war dieser Tag der schönste Moment des Jahres. Nun klopften die Menschen anerkennend auf seinen Buckel «BRAVO CARLO!» Sie waren froh, dass sie einen Dummen unter sich hatten, der ihnen den Gang ins kalte Meereswasser abnahm.
Als Carlo 25 Jahre alt war, führte ihm Don Pino die zwölf Jahre ältere Lida zu. Sie war die Tochter des Schafhirten Enzo. Lida war schön. Aber blind. Und sie war die erste UND LETZTE Frau, die Carlo ebenfalls den Rücken berührte. Aber auf zarte, einfühlsame Art. Und dabei flüsterte sie ihm zärtliche Dinge ins abstehende Ohr. 30 Jahre lang lebten die beiden glücklich als Paar. Carlo umsorgte Lida ergeben. Und nie hätte man sie gesehen, ohne dass die beiden Hand in Hand durch die Strässchen am Hafen bummelten? er hinkend, sie mit dem weissen Stock, der in kurzen halbkreisförmigen Bewegungen die Strasse abtastete.
Es war an jenem Morgen, als Carlo nachts den Heiligen Erasmus wieder ins Meer tragen sollte, als das Unglück geschah. Lida war alleine auf die Strasse gegangen, weil ihr Mann mit dem Schmücken des Gladiolenboots beschäftigt war. Sie konnte den Jeep, der aus einer Parklücke rückwärts fuhr, nicht sehen. Noch auf dem Weg ins Spital von Orbetello ging sie in die andere Welt? und es war am alten Pater Pino, seinem Schützling die Hiobsbotschaft zu überbringen. Carlo sagte kein Wort. Er weinte nicht, zeigte keine Regung. Pino nahm seine Hand. «Geh jetzt nach Hause... ER hat es so gewollt!»
Carlo schaute den Prete lange an: «ER will, dass ich San Erasmo aufs Boot trage? in diese Nacht, die so dunkel ist, wie das Augenlicht meiner armen Lida!» Noch viele Jahre später erzählten die Alten von dieser Prozession, welche fast gespenstisch zum Hafen gepilgert sei. Der Himmel zeigte sich tintenschwarz. Die Luft war schwül. Und nirgends funkelte ein Stern? da waren nur die Kerzenlichter der Frommen. Und die bunten Glühlampen auf dem Gladiolenboot.
Langsam und mit einem unendlich müden Gesicht humpelte Carlo mit dem Heiligen auf dem Buckel zum Meer.
Dann beobachteten die Leute, wie der Bucklige am Gladiolenboot vorbeiging, immer weiter watete er ins Meer hinaus. Das Wasser stand ihm bereits bis zum Kinn, gespenstisch schwebte die Holzfigur über seinem Kopf. Einige Männer riefen ihm vom Boot aus zu: «Carlo... CARLO!»
Aber da hatte diese blinde Nacht, die sich mit dem pechschwarzen Meer vereint hatte, den Buckligen bereits verschluckt. Erst einen Monat später hat das Meer seine Leiche freigegeben. Den hölzernen Heiligen hatte es bereits am nächsten Tag ans Ufer gespült. «Wir wollen Carlo und seine Geschichte nie vergessen. Sie will uns sagen, dass diese Welt nicht von Geld oder Macht, sondern immer von Liebe und Leid getragen ist...»? so endet heute der Nachfolger von Padre Pino jeweils seine Predigt am Tag des Heiligen Erasmo.
In der Nacht aber, wenn einer der jungen Sportfanatiker aus dem Fitnesscenter des Ortes den nun teuer restaurierten und in allen Farben schillernden Holzheiligen zum Gladiolenboot trägt, wird am Ufer den Touristen und Menschen von Porto Ercole eine Suppe ausgeschenkt, die sie «Zuppa di Carlo» nennen. SIE SOLL AN DEN BUCKLIGEN ERINNERN. Die Brühe hat jedoch? wenn man dem alten Pater Pino Glauben schenken will? nicht im Entferntesten mit dem göttlichen Gericht zu tun, das Carlo einst aus den hart verdienten Fischresten gekocht hatte.
Vom Buckligen und San Erasmo
Samstag, 25. Juni 2011