Donnerstag - «... und weshalb ist diese Braut nicht weiss?», zündete Graziella spitz, als sie die Hochzeitsgesellschaft übers Kürbisfeld stolpern sah. «Ist Keuschheit ein alter Hut? NIEMAND RESPEKTIERT HEUTE DIE UNANGETASTETE JUNGFRÄULICHKEIT!
Umnattert von züngelnden Schlangen und flatternden Fledermäusen werden sie alle in der Hölle brodeln, diese sexvergeilten Antichristen, die schon vor dem Kindergarten ihr Schönstes herschmeissen...». «Ach Mammina!» - das war Bruna. Sie strich ihrer Mutter zärtlich über das Haar, kniff sie in die üppigen Weichteile und lachte: «Kalabrien war einmal - und du wirst mir doch nicht sagen, dass mein Papo eine Jungfrau vor dem Altar geküsst hat!»
Nun kreischt Graziella auf wie ein Dampfkochtopf, dem der Zapfen hochgeht: «KEINE JUNGFRAU NICHT?! - Ich war keusch bis zum letzten Bissen! Zu unserer Zeit wars noch Anstand und Sitte, dass das Brautpaar an der Festtafel sitzen blieb, bis auch der Letzte sich mit dem Grappa unter den Tisch gesoffen hatte. Dann erst war Grünlicht für die Hochzeitsnacht gegeben. Aber Zio Arnoldo und sein Vetter Eduardo waren nicht umzukriegen. Der eine Faschist, der andere bei den Kommunisten - so gingen sie vor dem Caffè wie zwei hitzige Maremma-Ochsen aufeinander los, nachdem sie sich den ganzen Abend schon Giftiges an die Betonköpfe geworfen hatten. Na ja - endlich schlug Arnoldo seinem Vetter die Faust in die eigens fürs Fest neu gekauften Oberzähne - wie ein Kanonengeschoss donnerte der Ärmste über den zuckrigen Desserttisch mit all den rumfeuchten Babas, den kandierten Marzipankuchen und den Eisbomben - zuletzt landete der Geschlagene im Schoss der 98-jährigen Zia Rosanna. Dieser Schoss war wirklich noch unberührt gewesen. Und ein geschlagenes Jahr lang ist Rosanna zu Don Alfonsos Beichtstuhl gerannt, weil sie endlich auch etwas zu sagen und beim Aufprall von Eduardos hartem Schädel ein prickelndes Gefühl zwischen ihren Lenden empfunden hatte. Die oberen Zähne von Eduardo aber hat man im vierten Abteil der fünfstöckigen Hochzeitstorte gefunden - natürlich wollte die keiner mehr...»
Graziella hatte sich in eine Hitze hineingeredet, und wir waren von ihren Schilderungen derart hingerissen, dass alle den Auftritt des Traumpaares aus dem Kürbisfeld in unsern Vorgarten verpassten.
«Sie kommen! - lass endlich die Posaunen ab!», schrie Innocent nervenflattrig, weil er an diesem Fest die Regie für den künstlerischen Rahmen übernommen hatte.
Ich drückte den Knopf des Kassettenrecorders. Aber irgendjemand hatte Mendelssohn mit Abba vertauscht. Und so schepperte statt des Hochzeitsmarsches «Mamma mia...» über das Meer.
Samstag - Eine Woche lang hatten die Frauen der Insel für das Fest gebacken, genudelt und gekocht. Nur an die Hochzeitstorte hat sich keine rangewagt.
«Geh zum Sizilianer nach Orbetello», hatte Graziella ihre 5-stöckige Vergangenheit heraufbeschworen. Sie wollte ihr Zuckerkuchen-Trauma mit Hilfe einer neuen Torte aufarbeiten.
Also ging ich zu Giuseppe, den alle nur den zuckrigen Pipo nennen, und erklärte ihm das Süsse: «Hoch wie der Turm von Pisa und mindestens so verzuckert wie das Carlton von Cannes...»
Pipo versprach mir den Honig vom Himmel, doch war er beim Aufsteigen des Mondes noch immer nicht da, obwohl wir schon sechs Mal Caffè nachgeschenkt hatten und alles «i Sposi... i Sposi!» schrie. Die arme Braut äugte immer wieder unsicher zum grossen Buffet mit den Zuckermandelsäckchen im Tüll und dem noch gähnend leeren Platz, wo die Hochzeitstorte von beiden endlich, endlich angeschnitten werden sollte.
Gegen Mitternacht meldete sich Pipo schliesslich atemlos: Er sei in einer der Serpentinen ins Schlingern gekommen und nur ganz, ganz wenig den Abhang runtergerutscht. Ob einer der Hochzeitsgäste wohl einen Kran habe?
NA BITTE.
Ich war von Anfang an für Tante Oetkers Fertigkuchen. ABER NEIN. INNOCENT MUSSTE JA MIT SEINEM PICKELHARTEN BETONGRIND DEN GANZEN ZUCKERZAUBER DURCHSTIEREN.
Und nun also: der Abgrund.
Sonntag - Gut, ich habe die fünf süssen Etagen, die als schaumiger Trümmerhaufen auf dem silbrigen Tortenpapier rumpappten, mit einem Spachtel kunstvoll ebengestrichen und alles mit Blumentüll sowie zwei leicht verklebten Marzipanrosen, die Innocent vom vorletzten Osterei abgeklaubt hatte, aufgemotzt. Dann habe ich die Überraschungs-Ei-Figürchen des kleinen Angelino geklaut. Der hartgummige Glöckner von Notre-Dame und das goldene Einhorn wurden gegen das verquetschte Plastikbrautpaar ausgetauscht. Dazu ein Wunderkerzchen vom letzten Weihnachtsfest. UND DAS WAR DANN AUCH SCHÖN.
Allerdings - Graziella hat so ihre Bautkuchen-Phobie nicht kurieren können.