Vom Besuch der alten Dramen und...

Montag - Schon lange wollte ich Ihnen hier schreiben, wie wunderbar es ist, ältere Menschen - ach, sagen wirs frei heraus: sehr alte Menschen - mit ihrem Stock und Stöhnen verwöhnen zu dürfen.
Angefangen hat das Ganze mit einem fröhlichen Telefon meines lieben Vaters aus Adelboden-Boden. Ich hatte mir eben...
«HAAANS - HAST DU MEINE BRILLE GESEHEN... HAAANS!»
Entschuldigen Sie mich kurz. Ich muss da mal zum Rechten schauen. Wenn ich nicht gehe, purzeln sie mir wieder in die Brennnesseln und...

«WASISS?» «HAST DU MEINE BRILLE VERLEGT?» (Pause)
Dann: «SPRICH DEUTLICH. DU WEISST, DASS DU OHNE ZÄHNE IMMER NUSCHELST!» (Es klirrt)

«HANS - DU BIST EIN EKEL. JETZT IST MIR DIESE SCHÖNE VASE RUNTERGEFALLEN, NUR WEIL ICH MICH SO AUFREGEN MUSSTE. HAST DU DIE HERZPILLEN GENOMMEN?!» (Pause)
«HAST DU DIE HERZPILLEN GENOMMEN, HAAAANS? SCHALTE ENDLICH DIESEN VERDAMMTEN HÖRAPPARAT EIN!» (Pause)
Dann die Stimme des lieben Vaters: «CAMILLA - HAST DU ETWAS GESAGT?» Später finden wir die Brille im Zahnglas und die Drittbeisser im Eiskasten.

Es sind die alten Menschen, die unser Herz jung und auf Trab halten.

Dienstag - Ach ja. Wo sind wir gestern stehen geblieben? Stimmt. Das Telefon. Da ruft also mein lieber Vater aus dem Chalet an, und wenn er anruft, ist er wie die Tagesschau; nur schlechte Nachrichten:

«Das Dach lässt durch. Da müssen Ziegel ersetzt werden. Und die Wasserleitung ist auch gebrochen... Der Edi kümmert sich um alles, obwohl er seit seinem Sturz vom Heuboden humpelt und am Stock geht. ICH MEINE, DAS IST NOCH EIN FREUND UND ES IST JA DEIN HAUS! Und da habe ich mir gedacht: den Edi nimmst du mit seiner Lisette mit auf die Insel als Dank dafür, dass er dir die Hütte in Ordnung hält...» UMSHIMMELSWILLEN. Das Kuonisbergli-Duo wird mir aufs Meer hinaus jodeln. Ich ahne Düsteres: «Wann kommt Ihr?» Kichern. Dann Vaters Stimme durchs Telefon: «ICH HAB JETZT EIN HANDY. Schau mal zu deinem Tor! DER BESUCH DER ALTEN DRAMEN.» Die Sonne über der Toteninsel ist dann mit dem «Bergjuchzgerli» ins Meer gesunken.

Donnerstag - Sie sind ja wirklich rührend, wie sie da an ihren Stöcken durchs Haus zwirbeln, einander anbrüllen und sich alle fünf Minuten denselben Witz vom Trämmler und der Nonne erzählen. Das Schönste: Sie können sich immer wieder aufs Neue über die Pointe freuen und lachen dann so herzlich, dass die Schrauben in ihren lädierten Knochen scherbeln...
Da geht einem das Herz auf. Und da nimmt man auch hin, dass der eine streng seine Ying-und-Yang-Diät einhalten muss, der andere eine Käse- und Knoblauch-Allergie hat und mein lieber Vater nur noch Süsses isst: «Das Leben war bitter genug - nach 84 habe ich gemerkt, dass nur noch Süsses mich wirklich aufstellen kann...»
Camilla kümmert sich rührend um ihn. Sie kaschiert seine Vitaminpillen in Mohrenköpfen, die man ja (die Mohrenköpfe) aus ethischen Gründen nicht mehr so nennen darf - aber Camilla weiss noch immer nicht, wie sie die Dinger sonst beim Namen nennen soll, damit sie von der türkischen Verkäuferin in ihrer Quartierbäckerei verstanden wird. Also - Vaters Multivitamine werden in die Patisserie eingeknetet, dafür schüttet er Camilla immer heimlich vom Schnaps nach: «Sie wird sonst nie müde und erzählt mir noch morgens um drei Uhr die Story von ihrer versauten Dauerwelle!»
So hat hier jeder sein Programm.

ICH ALLERDINGS AUCH.

Es ist ein Nonstop-Job, die lieben Alten zu betreuen - ich jage ihrer Unterwäsche nach, die sie in leichter Verwirrung dem Pöstler mitgeben. Ich salbe ihre krummen Rücken mit Ringelblumenschmalz und putze Vater unauffällig die Lippenstiftabdrücke dort weg. Ich helfe Camilla unter die Dusche, stütze sie beim Yoga und kläre Missverständnisse auf, wenn sie weinend vor dem Handy sitzt und schluchzt: «Meine Tochter will mich einfach nicht verstehen» - dabei ist es nur das italienische Telefonband, das leiert «Numero sbagliato... Wrong number... Falsche Nummer». Dazu vom Adelbodner-Duo «Z Annebääbi wott go mäuchä» im Kanon.

Freitag - Abschied mit Umarmungen und Stöcke-Einsammeln sowie vielen guten Ermahnungen: «DIESES DACH IST SCHIEF UND LÄSST DURCH.» (Nur mit Mühe konnte ich den Alpen-Edi daran hindern, mit seinem sechs Mal gebrochenen Scheichen auf die Ziegel zu klettern, um dort all «die Donners-Blüeemene» auszureissen, welche mir bei Regen ein ewiges Tropfen über dem Fernseher bescheren.) Noch drei Mal sind sie zurückgekommen - das letzte Mal, um Vaters vergessenen Hörapparat aus dem Morgenmüesli zu ziehen. Und schliesslich haben sie mir ein kleines Fläschlein aufs Bett gestellt - darauf handgeschrieben: «UNS DEUCHT DU BRÄUCHTEST ETWAS BERUHIGENDES!»
Es war Baldrian vom Feinsten - derselbe Baldrian, den ich ihnen vergeblich in die Ying-Yang-Diät und die Mohrenköpfe gemixt hatte...

Dienstag, 17. Mai 2005