Vom adligen Macellaio und der «Entführung» im San Carlo

Donnerstag Guido hat uns Opernkarten besorgt. Guido ist der Spross einer neapolitanischen Adelsfamilie. Mit Wappen auf dem Silber, Brokatvorhängen und diesen leicht ausgetragenen Anzügen, die das Povere der Noblesse ausmachen. Natürlich sind seine Vorgänger alles Pfeifen gewesen.
TUTTE PIPE!
Frauengeschichten haben die Sippe aus dem Stamme der Aragonier ruiniert? RUINIERT, sage ich euch. Frauengeschichten. Koks. Und Roulette. Jede Generation hat wieder etwas Land, ein kleines Bauerngütchen in der Campana oder ein Inselchen vor Ischia verkauft. Arbeit haben die Noblen Italiens nämlich stets ähnlich gefürchtet wie der Teufel das Weihwasser.
UND SO IST DAS NOBLE MEHR UND DER BESITZ WENIGER GEWORDEN.
Als der kleine Guido seinem Stamme erklärte, er wolle Metzger werden, hat die Familie unisono zum Riechfläschchen gegriffen. Er hätte genauso gut verkünden können, er werde sich sein Leben als Zsa Zsa Gabor in einem Travestielokal verdienen. Der Vater warf ihn unter tausend Verwünschungen aus dem Palazzo. Dabei gehörte dieser eh nicht mehr ihm, sondern 16 Mitbewohnern, welche die 32 Palasträume in Dreieinhalb-Zimmer-Wohnungen umgeschachtelt hatten...
Zia Annunziata, die Gattin eines vom Koks arg näselnden Conte, der im venezianischen Casino am Canale Grande gar seine Zähne auf Zero gesetzt haben soll (und natürlich gewann)? Guidos Tante Annunziata also liess ihren Grossneffen an ihrem 98. Geburtstag zu sich rufen.
Die Contessa lebte in einem alten Palazzo auf Santa Lucia. Mit 68 hatte sich ihr Gatte am Tag der Beffana an einer der seidenen Vorhangsschnüre erhängt. Grund:
DAS NEAPOLITANISCHE ZAHLENLOTTO.
Der total bankrotte Conte hatte sich nämlich bei einer jungen Zigeunerin in der Via Toledo beraten (na ja, nicht nur...) lassen. Diese prophezeite ihm sein Glück im Dreikönigs-Lotto. Und er solle alles auf die Sechs setzen. Daraufhin hat der Mann von Annunziata seine Pistolensammlung verschachert und mit dem Geld alle Lottoscheine, in welchen irgendeine Sechs in der Gewinnzahl vorkam, aufgekauft.
DER HAUPTGEWINN? und davon redet Neapel heute noch? WAR DIE NUMMER B-999 999 999. Der hängende Conte hatte nach seinem Suizid ausser 15'328 Lottoscheinen nichts als Schulden hinterlassen.
Ein bekannter Bauspekulant hat der Contessa daraufhin angeboten, den Palazzo abzukaufen? er werde für die Schulden des Conte aufkommen. Und natürlich dürfe die Contessa bis zu ihrem letzten Atemzug im Palazzo wohnen. Nach ihrem Tode, der (so dieser schleimige Heuchler) «hoffentlich noch weiter entfernt liegt, als die Aussicht auf einen unbestechlichen Beamten auf dem Stiefel»? gehöre dann alles ihm. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass die Tante seit jung an einem Magenkarzinom litt und bereits so aussah wie diese schlecht gehaltenen Hühner, die nur noch Haut und Gackern sind. Arzt und Priester gaben ihr noch «ein paar friedvolle Tage»? aber Annunziata wurde dank ihrer strengen Diät steinalt. Ihr Essen, das die Zofe Rosanna (seltsam, aber die verarmten Adligen finden immer ein paar ergebene Seelen, die sich für drei gute Worte bei ihnen aufopfern) zubereitete, die Diät, die Annunziata täglich zu sich nahm, bestand aus:
> drei Grissini aus Turin
> der Hostie des Priesters in der Kirche von San Domenico Maggiore
> und einem Schluck Marsala, der jeweils mit einem tagesfrischen Hühnerei von der Dienerin aufgeschäumt wurde.
So wurde die Tante 104 und sechs Tage alt.
Der Palazzo-Spekulant hatte sich bereits 23 Jahre vor ihrem Tod ins Nirwana verabschiedet. Da er keine Erben hatte, ging der Palazzo aus diesen unerfindlichen juristischen Gründen, wie sie im Lande der Pizza nun mal eigen sind, an Annunziata zurück. Und, wie erwähnt, als diese 98 war, liess sie ihren Grossneffen Guido antanzen, um ihm mitzuteilen, dass sie die ganze Sippe stets als einen «Scheisshaufen voller Snobs» («una folla di merda col puzzo al naso») betrachtet habe. Er, Guido, sei wahrhaftig der Einzige, in dessen Eiern ihre Gene pochen würden. Immerhin seien ihre Vorfahren renommierte Messerstecher in Palermo gewesen? und wenn er heute auch nur die Sau abschlachte, so sei er eben doch von IHREM Schlag und der Palazzo seiner würdig.
Angefeuert von so viel Vertrauen und dem Erbversprechen, hat Guido schliesslich eine Grossmetzgerei auf die Beine gestellt? eine Macelleria, deren geräucherte Schweinehälse mit dem Gütestempel «Capocollo all? Annunziata» zuerst den ganzen Stiefel und bald auch die Pizzerien in New York, São Paulo und Hongkong begeisterte.
UND DAMIT WÄREN WIR AM ANFANG DIESER GESCHICHTE.
Guido hat uns Opernkarten besorgt.
KÖNIGSLOGE. Er hat's ja jetzt.
Und natürlich ist es ein wunderbares Erlebnis in Neapel das San Carlo, diese samtgefütterte Theater-Schmucktruhe, besuchen zu dürfen. Wir freuten uns auf Mutti und seine «Entführung». Als im dritten Akt die ganze Bagage in einem Gummiboot floh (es war eine dieser gutgemeinten modernen Inszenierungen, in der Zerlinde ein Travestit und der Chor blinde Gelativerkäufer waren), als der Vorhang also endlich fiel, war auch Guido mit seiner und somit dieser Geschichte fertig. Drei Akte lang hatte er in der Königsloge sein Leben auf mich eingesungen? und wenn es auch spannender war als die Inszenierung mit dem Gummiboot, so werde ich morgen doch alleine ins San Carlo gehen, um mir Medea anzuhören.
ALLERDINGS: DRITTER RANG. UND NICHT KÖNIGSLOGE.

Mittwoch, 20. Mai 2009