Vom Adelbodner Frühling und Bergdohlen

In Adelboden ist «Hors Saison». Das bedeutet: in den Cafés Schmid und Haueter schieben wieder diese wunderbaren Gestalten in den braunen Kratzhosen und dem Zipfelkäppli auf dem Schütterhaar verpuderte Wienerwaffeln, hochglänzende Erdbeertörtchen und rosig schimmernde Cremeschnittenglasuren zwischen den Zahnlücken hindurch. Und am Stammtisch im «Victoria» ereifern sich die Kleinunternehmer des Ortes darüber, dass das «Alpenbad» vielleicht doch nicht komme.
Nachdem Adelboden die Minarette unisono bachab geschickt hatte, waren die Financiers aus dem arabischen Raum doch ein bisschen verschnupft und schnürten den Investitionsbeutel enger. Jedenfalls soll jetzt der Bergort auch ein paar Fränkli für die Spassbadegesellschaft aufbringen.
DIE STIMMUNG IST ENTSPRECHEND.
Pierens Edu jedenfalls zieht langsam den Humpen mit dem Bier an sich und blinzelt mit seinen Schweinsäuglein listig: «Jo, doo chönnet-de die arabische Schofsgigu-Frässer lang warte, bis dr Adubodner Edu sis Füfräppleni aröuele lot...» Na also.
Hors Saison ist der Bergort wie eine Herdplatte, die auf null geschaltet wurde und noch ein bisschen Restwärme abgibt. Man ist «entre nous», wie die wenigen Dauergäste es vornehm ausdrücken. Nun stehen die meisten Liftbetriebe still. Sie haben die Tellerli und Bügel weggerupft, wie der Zahnarzt die bernsteinfarbig verrauchten Zähne vom Schranz Seppi.
Die Bauern, welche eine schneeweisse Saison lang allen Skihasen diese Kleiderbügelstangen an den Allerwertesten gezogen haben, dabei kaum ein Wort sprachen, sondern lieber ihre Stumpen flach kauten, gehen nun wieder zur Tagesordnung im Stall über. Sie binden die Schwänze der Kühe hoch und satteln sich unter die Euter? bei der Kuh sind sie dann etwas gesprächiger: «He Lisi... hesch es empfindlichs Ütteri...» Dann holen sie diese Salbe, die sie im Sommer aus Melchfett und Ringelblumen angesetzt haben und reiben den lädierten Euter so liebevoll ein wie der Koch das Hähnchen mit Rosmarinöl.
Auch Andi, der Gourmet-Cuisinier auf der legendären «Hohen Liebe» kann nach dem Saisonstress zum ersten Mal durchatmen. Gattin Sandra, einst berühmte Abfahrerin und heute Wirtin in der schuhschachtelgrossen urgemütlichen Alphüttenstube hat Zeit, ihren Knirps auf die Silleren zu begleiten, wo der Kleine mit begeistertem «Achi geits!» in Rennfahrerhocke der Mutter davonjagt. Derweil tüftelt der Vater zu Hause neue Rezepte aus: Soufflés aus Heublumen-Blüten... Senfcrèmesüppchen mit moussierten Salmforellen-Blumen und dem würzigen Duft von hausgeflogenem Bienenhonig... warme Schokoladentörtchen mit den letzten Wintertrüffeln der Saison.
Andi hat es sich zum Ziel gesetzt, Schlemmereien aus der Fülle der Umgebung zu komponieren. Wald, Wiesen, Bäche, der nahe Blausee? all dies bietet ihm eine wunderbare Zutatenpalette. Und die Connaisseurs reisen von weit her an, um in der kleinen Gaststube diese Kombinationen von gesammelten Beeren und Kräutern, eingemachten Früchten und hausgezogenem Vieh zu geniessen.
Der Frühling lässt dieses Jahr länger als sonst auf sich warten. Längst hat uns die Sommerzeit eine Stunde gestohlen und bereits haben Krokusse und Narzissen die Köpfe zum ersten warmen Sonnengruss gestreckt? da hat die Holle, diese miese Spielverderberin, schon wieder die Duvets ausgeschüttelt. Und die Frühlingshoffnungen mit flimmerndweissen Flocken bedeckt. Ich sitze am Fenster und schaue in das Weiss, das nun schon so lange dauert. Und das doch endlich dem ersten Mattengrün Platz machen sollte. Auf dem kahlen, gespenstisch dunklen Baum, kaum einen Steinwurf von unserem Garten entfernt, sitzen teerschwarze Dohlen. Ihre Augen sind auf das Fenster gerichtet. Und ich weiss, dass mein Vater sie von irgend einer Wolke hierher geschickt hat: «Wenn ich mal nicht mehr bin... vergiss mir die Dohlen nicht... sie gehören in die Berge wie das Enzian auf die Alp... streu ihnen altes Brot... irgendwie werden sies dir danken.»
Ich habe immer über meinen Vater gelächelt, der das alte Brot in einem Leinensack sammelte. Und es dann mit seinen ungeschickten, dicken Fingern und dem grossen, gezackten Brotmesser mit Engelsgeduld in kleinste Würfelchen schnitt. Das Bild hatte etwas Rührendes.
Irgendwie. Wenn er dann die Türe öffnete und mit der Schale voll von Brotstückchen zum Garten ging, stieg vom blattlosen Baum eine trauerschwarze Wolke auf. Die Vögel warteten bis Vater verschwunden war. Dann machten sie sich mit ihren scharfen Schnäbeln über die harten Stückchen her. «Du wirst es nicht verstehen? aber im Alter verschieben sich die Werte», hat mein Erzeuger immer wieder gelächelt. «Du suchst den Frieden... die stillen Bilder... so etwas wie ein letztes Zuhause, wo du alle Erinnerungen nochmals abspulen kannst.»
Nein. Ich habe es nicht verstanden. Wo war der streitlustige Kämpfer geblieben, der Parteien spalten und Weiber ins Nirwana entführen konnte?
VÖGEL FÜTTERN!
Die Zeit bringt das Verständnis.
Ich gehe in die Küche. Hole das alte Brot. Und schneide es in feine, kleine Würfel.

Samstag, 17. April 2010