Vom «Cheval de Merde» und dem anderen Cannes

«Zum vermaledeiten Pferd» ist doch kein Name für eine Beiz! Schon gar nicht für eine Pinte, die ihr Bier vom Hahnen zapft. Und die Fritten so bleich serviert wie das Gesicht vom deutschen Bundestrainer, als da der Penalty verschossen war.
Wer in Cannes nicht nur die «Croisette» abgrast, wer also in dieser Stadt des roten Filmteppichs und der russischen Schwarzgelder nicht einfach nur sein Hündchen zwischen den Palmen Gassi führt und auch schon mal den Blick hinter die Kulissen der Zuckertortenfassaden riskiert, der stösst noch vor der konstant verstopften Rue d'Antibes und gleich hinter dem Grand Hotel auf das kleine Beizchen mit dem seltsamen Namen «Au Cheval de Merde».
Es war nicht der Name, der mich in die Beiz zog, sondern mein Onkel Nudelstadt, der als Frühaufsteher behauptete: «Hier dampfen sie den Café bereits morgens um sechs Uhr ins Tässchen? und einen knusprigen Croissant bekommst du ebenfalls.»
NUN? KNUSPRIG SIND DIE FRANZÖSISCHEN GIPFEL JA SCHON LANGE NICHT MEHR. Die Zeit sowie diverse EU-Mehlvorschriften haben das Krosse lahmgelegt. Früher explodierten die Frühstücksdinger zwischen den Zähnen in einen herrlichen Blätterteigregen? heute? LAHM. LAHM. LAHM. Du könntest auch an einem englischen Sandwichbrot lutschen.
Also: Der Croissant beim «Cheval de Merde» war keine Offenbarung und der Orangensaft nur so lala. Die Beiz aber ist eine bizarre Kulisse von unrasierten Pennern. Mecken stolzieren in Schuhen so spitz wie venezianische Gondeln herum. Und Rentnerinnen mit hausgefärbten, rabenschwarzen Haaren und scharlachrot getünchten schmalen Lippen? sodass sie aussehen als hätten sie eben an einer Dose Sugo genuggelt, diese Frauenbilder also blinzeln mit ihren kleinen Schweinsäuglein zum grossen Fernsehbild, wo Rösslein aller Arten ihre Pferdestärken zeigen... Kurz: Das Publikum ist speziell. Und mein Onkel Nudelstadt in seinem schwarzen Kittel, den weissen Nike-Turnschuhen und der goldenen Geldspange passt hierher, wie der Heilige Geist ins Puff.
ABER: «Auch das ist Cannes», gibt er das Wort zum Tag von sich. Und bestellt noch einen Gipfel, obwohl ihn meine Tante mit Anti-Cholesterin-Pillen vollstopft wie diese reichen Cannes-Witwen ihre kaum tassengrossen Hündchen mit Schoko-Biscuits.
Ich beschliesse, später zurückzukehren? und das hat nichts mit dem zahnlosen Kellner zu tun, sondern mit seiner Angewohnheit, das Bier mit einer erloschenen Zigarettenkippe zwischen den Lippen zu servieren. Alle vier bis fünf Minuten geht er kurz vor die Beiz. Zündet die Kippe an. Nimmt einen tiefen Zug. Verdreht die Augen wie der Gockel, wenn er die Henne besteigt. Und kräht dann: «Will jemand bezahlen, Messieurs-Dames?»
JA HALLO FREUNDE? DAS IST SCHON SPASSIG UND MIT EINER MCDONALD-BEDIENUNG («Ketchup oder Mayo?») NICHT ZU VERGLEICHEN.
Ich bin mittags also zurückgekehrt. Und nun hatte sich da in der Beiz ein kleiner Schalter geöffnet, vor dem die Mecken Schlange standen, die Hausfrauen ihre letzten 5-Euro-Noten rausblätterten und die Penner die geschnorrten Münzen auf «Numéro 2» setzten.
Eine etwas abgefuckte Ex-Barmaid kündete über ein Mikrofon, das sich überschlug wie chinesische Bodenturnerinnen, die Favoriten des nächsten Rennens an. Einer der Penner versprach mir gegen ein Bier den todsichern Geheimtipp: «Numéro 5? das weiss ich ganz genau... er heisst Jules und hat eine Gewinngeldquote von 80 Prozent. Aber Jules hats in sich...»
Ich offeriere also ein Heineken, wette zehn Euro auf Jules und treffe mich vor der Beiz mit all den andern Süchtigen vor einem klapprigen Blechtisch, den der zahnlose Kellner mit der (nun glühenden Kippe) energisch mit einem nassen Lappen abreibt.
Wie er verschwindet, erfahre ich seine Geschichte: Paul war dem Wettfieber verfallen, wie alle Gäste des «Cheval de Merde». Eines Tages hatte er den topsichern Tipp in der Tasche. Verflüssigte alle seine Habe. Und setzte das ganze Geld auf die Nummer 6. Das Pferd war in Führung, stürzte aber in der letzten Kurve? «Cheval de Merde!», schrie Paul.
«Das war vor 23 Jahren», nickt einer der Raucher. «Er hat nie mehr gewettet. Arbeitete hier als Kellner seine Schulden ab. Und ist heute der Besitzer der Pinte.» Der Mann hustet und lacht: «Als er die Beiz kaufen konnte, hat er sie?Cheval de Merde? getauft. Und in einer kleinen Ansprache seinen Gästen erklärt: «Le malheur peut toujours se transformer en bonheur... in jedem Pech steckt ein bisschen Glück...»
Ein Geschrei und helle Aufregung im Innern der Beiz setzte den Schlusspunkt zur Geschichte. Es schien, als wäre das Rennen mit Jules zu Ende. Und ich wollte meinen satten Gewinn abholen.
Natürlich war «mein Pferd» als letztes durchs Ziel gegangen.
«Es war nicht Jules? Tag...», zuckte der Penner mit dem todsichern Tipp die Schultern. Und kippte mein Heineken leer.
«Cheval de Merde!»? schimpfte ich.
Und warte nun auf das Glück im Pech...

Samstag, 10. Juli 2010