Schnee

Als fünfjähriges Kind - UND WAS FÜR EIN TRAUMSCHÖNER BUB; DAS HANDGESTRICKTE MODELL FÜR JEDES WOLLHEFTCHEN. Mit 60 Monaten also kam ich erstmals in meinem Leben bewusst mit Schnee in Berührung.
Ich kann euch sagen: Es war der absolute Hammer!
Vater war der Lattentyp: Immer ein Liedchen und ein paar Skis drauf. Ebensolches Lebensgefühl wollte er auch seinem genetischen Nachfolger übertragen. Also wurden Winterferien gebucht.
Mutter strickte niedliche Pullover in Pink and Blue, so wie sie Shirley Temple bei ihrem «Und alles wird gut»-Film getragen hatte. Vater hatte beim Christkind Ski bestellt. Und schon hier hätte ihm ein Licht aufgehen sollen - auf der Wunschliste hatten nämlich das Puppenpaar «Edna und Erna» gestanden. UND ICH SCHRIE ZETERMORDIO, ALS STATT IHRER DIESE UNGEMÜTLICHEN HOLZBRETTER AN DER TANNE STANDEN.
Na ja. Mutter kaufte mir heimlich einen lindgrünen Teddybären mit bernsteinenen Knopfaugen. Das war nur ein halbherziger Ersatz. Aber es war dann der erste Bär, an dessen haariger Schulter ich mich über die unverständige Welt ausgeweint habe.
Wir fuhren nach Bever. Und wir fuhren ausser Saison, weil mein Vater nur einen Trämlerlohn zur Verfügung hatte und Mutter von ihrer Seite (mit giftigem Blick auf den Schienenschwiegersohn: «WIE KONNTEST DU!») aus dem Testament gestrichen worden war. Später, als es mich erstmals im Schnee dahinschlug, habe ich auch den giftigen Blick bekommen und Mutters Familie total kapiert.
Bever war vor einem halben Jahrhundert das, was man politisch absolut korrekt als «Kuhdorf» bezeichnen darf. Wir hatten einen Stall gemietet - Badezimmer gabs nicht. Nur ein Waschbecken, wo über Nacht das Wasser fingerdick eiste und die Flöhe Schlittschuh liefen.
NA DANKE.
Ich war jung. Ich war schön. Und ich wusste, dass das Schicksal für Mutters liebstes Kind etwas Besseres als vereiste Waschschüsseln im Köcher hielt!
Tagwache war um sechs Uhr. Um acht begann die Skischule in Samaden. Und wir hatten den Weg von Bever nach Samaden zu Fuss zu gehen. Draussen herrschte Eisbitterkälte. Und in meinen klobigen Skischuhen ebenfalls. VERSTEHT JEMAND, WESHALB ES DAS KIND HEUTE SÜDWÄRTS IN DIE FERIEN ZIEHT?
Na eben.
Herr Cavelti, mein Lattentrainer, hängte mich an einen Tellerskilift - aber ich wollte nicht halten. Und da fiel ich immer wieder hin, wie die Kegel bei «alle Neune!».
Damals hätte ich auch ein Buch über das Gefühl vom Schnee schreiben können. Wie eine eisige Hand packte er mich überall, durchdrang alles Handgestrickte und schneite selbst in der Unterhose, der Kuttelpelzgefütterten. Ich kapierte: DAS IST KALT. DAS IST UNGEMÜTLICH. DAS IST EINE ZUMUTUNG.
Ich schrie.
Herr Cavelti konnte den jaulenden Buben nicht beruhigen. Er brachte ihn zu Vater, der die ersten Sonnenstrahlen bei einem Kaffi Jätter genoss, zurück: «Er ist schneeuntauglich! Buchen Sie ihm einen Tango-Kurs...»
«Du armes Kind», nahm mich Mutter in die Arme. Und Vater schaute sie missmutig an: «Du verweichlichst ihn. Musst dich nicht wundern, dass er Frösche küsst und von Prinzen träumt...»
Was ich sagen wollte: Alle jammern, es gebe keinen richtigen Winter. Der Schnee fehle.
ER FEHLT NICHT ALLEN...

Montag, 15. Januar 2007