Schmale Lippen

Erna schaute von der Kaffeetasse auf: «Hildi hat es jetzt auch machen lassen... » Walter wedelte gereizt mit der Zeitung? ein klares Zeichen, dass ihn die Resultate von Kitzbühel mehr interessierten als das, was Hildi machen liess. Erna liess nicht locker: «Zuerst die Augen... dann die Mundpartie... alles mit Spritzen!»
Die Spritzen waren stärker als Kitzbühel: «WAS SOLL DAS HEISSEN?» Erna blinzelte unschuldig über den Tassenrand. «Also? ich habe doch von Onkel Alphonse dieses Geld geerbt. Es ist ja wenig genug. Diese Weiber, die so taten, als würden sie sich um ihn kümmern, haben ihn nämlich zünftig abgezockt und...»
«WAS IST MIT DEM GELD?» jetzt war Kitzbühel total ad acta gelegt. Erna blickte Walter nun direkt in die Augen.
«Also, ich habe mich nun auch zu einer Korrektur entschlossen... kein Lifting... nur ein paar Aufspritzer. Siehst du denn nicht, wie meine Lippen durchhängen...»
Walter schaute entsetzt auf sein Vis-à-Vis: «Aber Erna-Kind? die sind doch immer so. Ich kenne die seit über 40 Jahren als etwas zu dünne Striche? aber es hat mich nie gestört und...» «ABER MICH HATS EIN LEBEN LANG GENERVT!» verkündete Erna nun bitter. «Ich habe nur nie etwas gesagt. Aber natürlich habe ich beobachtet, wie du bei andern Weibern an den Lippen hingst, wenn die voller waren und ICH WILL AUCH SO EINEN PRALLEN SCHMOLLMUND... Über 60 JAHRE HABE ICH DARAUF GEWARTET UND...»
Erna begann zu sniefen. Tupfte sich mit der Serviette ein paar Tränen aus den Augen. Und meinte dann zusammenhangslos: «... und überdies ist es ja mein Geld!»
Walter hätte vieles erwidern mögen? dass er Erna so liebe, wie sie ist. Dass dies alles zu ihr gehöre wie die Sterne an den Himmel. Und dass er Angst habe, seine Erna durch diese verdammten Spritzen zu verlieren...
Aber er sagte nichts. Er seufzte nur schwer. Denn wie er schon immer bei seinem alten Jass-Freund Hugo klagte: «Wenn Erna sich mal etwas in den Kopf gesetzt hat...!»
Die künftigen Frühstücksmomente bei den Müllers gingen nun schweigsam vorüber. Vielleicht schaute Walter nun weniger in die Zeitung und mehr zu Erna und ihren dünnen Lippen, die ihm täglich lieber wurden. Er würde sie vermissen. Und auch ihre kleinen Lachfältlein. Er gab sich einen Ruck: «Du hast dir doch immer so eine Vuitton-Tasche gewünscht und...»
Eigentlich war er immer gegen dieses Label-Fuzzi-Zeug gewesen. Ja, er hatte regelrecht Terror gemacht, wenn Erna wieder damit angefangen hatte. Aber nun schien ihm dies die billigste Lösung? Erna aber reagierte fast hysterisch: «KOMM MIR NICHT DAMIT!»? Sie funkelte ihn böse an. «Du hattest schon recht: Was nützt der alten Kuh ein junger Sack? NEIN. Das Geld wird für eine Totalrevision ausgegeben... vielleicht reichts noch für eine Fettabsaugung am Kinn!»
Nun war Walter aber echt schockiert: «Aber du weisst doch, dass ich dein Wabbelchen so mag...»? «Ja? aber nur, damit du dein Spässchen machen kannst: Du kneifst mich vor allen meinen Freunden ins Wabbelchen und nennst mich «meine alte Auerhenne!»? «SEHR WITZIG, MUSS ICH SAGEN!»...
«Ich wusste nicht, dass du es so siehst», meinte Walter kleinlaut.
«SEHE ICH ABER!»? das Gespräch war beendet. Und der Termin bei Doktor Spritzerlein auf Ende Februar festgelegt.
Zwei Wochen später kam Walters Gattin mit einer Tasche von Vuitton nach Hause. Ihre Hände streichelten liebevoll das Leder. «Was sagst du jetzt?»
Walter war total verunsichert: Ähem... sehr schön... sehr, sehr schön... und die Aufblaskur bei Herrn Spritzerlein?»
«Abgesagt», sagte Erna. «Ich habe gestern Hildi getroffen. Sie sieht aus wie eine Weihnachtskugel im Eiskasten? straff zwar, aber irgendwie alles am falschen Platz, wenn du weisst, was ich meine...»
Da nahm er sie beim Wabbelchen: «Ich bin ja so happy, mein Auerhennchen...»

PS? eine Stunde später rief Erna bei Hildi an. «Walter hat Vuitton kommentarlos geschluckt... es tut mir leid, dass ich dich da für meinen Plan missbrauchen musste... aber nur so habe ich mir seine Tiraden wegen der Tasche erspart... GOTT SIND MÄNNER KOMPLIZIERT!»

Montag, 26. Januar 2009