Lebensbaum

Als mein Vater starb, haben mir viele Menschen spontan gemailt, telefoniert, ge-SMS-elt oder geschrieben, dass sie an mich denken würden.

Das war schön. Und nie ist mir so bewusst gewesen, dass Menschen wirklich das Leid «mittragen» helfen können.

Arthur hat mir einen Baum geschickt. Einen goldenen «Lebensbaum». Der Baum ist vollgespickt mit Messing-Glöckchen. Wenn man die Äste berührt, erzittern die Glöckchen. Ein zarter, heller Klang ertönt: «Jede dieser Glocken ist eine Erinnerung an deinen Vater... versuche dir nun zu jedem Klingeln eine besondere Situation mit ihm vorzustellen.»

So bin ich vor dem Baum gesessen. Und die Glocken haben mich in die Vergangenheit zurückgerufen.

Erste Situation: Er dachte, er habe da einen strammen Nachfolger und Buben gezeugt. Also wollte er diesen schon bald einmal in seine Welt der Berge einführen. Und weil er ein ungeduldiger, junger Vater war, packte er das zweijährige Kind auf die Schulter. Kletterte mit ihm die steilen Felswände hinauf. Und seilte den Kinderwagen ab.

Zu Hause haben die Frauen zetermordio geschrien, als er ihnen stolz verkündete, sein Bub habe den ersten Dreitausender «geschafft». Natürlich kann ich mich nicht an diesen Moment erinnern - aber an die unzähligen Male, als er diese Geschichte stolz im Bekanntenkreis herumerzählte. Und daran, wie ich mich für diese Berg-Vergewaltigung rächte, indem ich mir auf meinen achten Geburtstag Ballettschuhe wünschte. Er schenkte sie mir mit wehmütigem Lächeln: «Das mit dem Berg war wohl nichts...»

Zweite Situation: Ich war verliebt. Der Gegenstand meiner hysterischen Anbetung war Chemielehrer. Ich dachte keine Sekunde mehr an Trigonometrie und Latein-Syntax. Ich dachte auch nicht an chemische Formeln, sondern nur an den Lehrer, der sie verkündete.

Wir hatten eine gute Zeit. Ausserhalb der Schule. Ich schwänzte etwa ein Jahr sämtliche Stunden. Da bedankten sie sich mit «Matur nicht bestanden - Betragen sehr tadelnswert».

Mein Vater holte mich von der Schule ab. Er legte mir die Hand auf die Schultern: «Du bist verliebt. Da ist der Kopf wie ein Bienenhaus. Und die Welt ist ein Höllenfeuer. Aber dass du überhaupt so lieben kannst, ist mehr als jedes Maturzeugnis. Es gibt zu viele Menschen, welche diese Erfahrung nie gemacht haben...» Dafür habe ich meinen Vater geliebt.

Dritte Situation: Meine Mutter fällt in ein Koma. Sie liegt bewusstlos im Spital. Zwei Jahre lang.

Ich bringe es nicht über mich, meine Mutter zu besuchen. Ich habe sie als schöne, gesunde Frau in Erinnerung. So will ich sie in mir bewahren. Die Familie verwirft die Hände: «Das kannst du nicht machen. Du musst doch zu ihr.» Mein Vater stellt sich vor mich: «Nein. Das muss er nicht. Ich gehe für ihn.»

Er ging jeden Tag. Zwei Jahre lang. Am einzigen Tag, als er nicht kam, ist meine Mutter gestorben.

Vierte Situation: Ich stehe an Vaters Krankenbett im Spital. Er ist abgemagert. Aber in seinen Augen ist noch immer dieses Feuer, mit dem er sein Leben gemeistert hat. Er nimmt meine Hand: «Hör mal - schau nicht so belämmert. Ich hatte 85 gute Jahre. Sehr gute Jahre. Nun ist die Zeit gekommen, die Karten abzulegen. Versuch auch gute Jahre zu haben, ein gutes Leben zu leben - es macht das Sterben leichter...» Ich sitze viele Stunden vor dem Lebensbaum. Eine Erinnerung nach der andern ist verklungen. Und ich merke, dass der Baum viel zu wenig Glöckchen hat...

Montag, 16. Januar 2006