Klassentreffen

Sie trafen sich im «Löwen».
Es war das erste Klassentreffen. 45 Jahre nach der Matur.
Und jedem sah man das Alter an.
Nur Hubert hatte keine Falten. Hubert war immer speziell gewesen. Mit spöttischem Grinsen hatten die andern zugeschaut, wenn er sich nach zwei Sportstunden und dem Duschen danach den ganzen Körper eincremte. Sie jaulten: «Ohhh, du süsses Schwulchen», wenn er die Haare zu sanften Wellen föhnte. Und die Augenbrauen zupfte.
«Klassenzwetschge», nannten sie ihn.
«Machogurken!», zündete Hubert zurück. Jaulend fielen sie über ihn her. Bis Walti sie zurückpfiff: «Hört auf mit diesem Scheiss!»
Walti war Klassensprecher. Und Primus mit einem Notendurchschnitt von 5,6.
Es kamen alle. Anfangs war da ein aufgeregtes «... du hast dich kein Grämmchen verändert!»
Sie logen einander tapfer an. Übertrieben beim Erzählen von ihrer Karriere. Und zeigten stolz die Bilder der dritten Lebensgefährtin herum: «Mit ihr ist alles ganz anders...»
Und plötzlich war da ein Schweigen. Ernst war so unvorsichtig gewesen, die Frage «Was wäre wohl aus Walti geworden?» in den Raum zu werfen.
Abrupte Stille. Einige schauten auf ihre Weingläser.
Stumm. Andere zum Fenster hinaus.
Keiner weiss, was damals geschah. Bis heute nicht.
Niemand kennt die Gründe. Aber zwei Jahre vor der Matur gab Walti in seinen Leistungen abrupt nach. Er war zerstreut. Schwänzte die Unterrichtsstunden.
Und wurde auf Probe gesetzt.
«So geht das nicht, Schnebli!», kanzelte der Klassenlehrer ihn vor der Klasse ab.
Die Schüler hatten später mit ihren Maturvorbereitungen mehr als genug zu tun. Was ging sie Walter an?
Der versagte. Total. Die andern waren froh, dass es ihnen besser lief. Und die Lehrer wackelten seufzend mit den Köpfen: «Schnebli! Schnebli!»
Mehr hatten sie nicht drauf.
Zwei Monate vor den Prüfungen hatte André, der Walter als Klassensprecher abgelöst hatte, die Maturfete eingefädelt. Sie wollten in weissen Nachthemden erscheinen. Und auf dem Münsterplatz sollten die Schulhefte verbrannt werden.
Die Schüler wurden dann in die Aula gerufen. Der Konrektor kam auf Walti zu: «Schnebli, kommen sie raus...» Die Klasse tuschelte. Nur Hubert wollte Walti nachgehen. «BLEIBEN SIE SITZEN!», zischte der Klassenlehrer.
Als die Maturzeugnisse dann verteilt wurden, sprang Walti von der Schulterrasse.
Die Hefte wurden nicht verbrannt. Die jungen Männer trugen keine Nachthemden. Und beim Maturessen sprach kaum einer ein Wort.
Dann gingen sie ins Leben hinaus. Um sich nach 45 Jahren wieder zu treffen.
Es war nun still im Säli des «Löwen». André schaute zu Hubert: «Du warst doch sein Freund. Hat er zu dir nie etwas gesagt?»
Hubert hob die Schulter. Und spreizte die Finger, an denen zwei etwas zu üppige Ringe funkelten:
«Er war immer sehr verschlossen... das wisst ihr ja... es war schwer, in ihn hineinzusehen...»
«Wir hätten es zumindest versuchen sollen...», meinte André. Und entschuldigte sich und die andern gleich wieder: «... aber damals waren eben andere Zeiten. Gefühle wurden nicht gezeigt. Und durften niemanden interessieren. Schon gar nicht Männer!»
«Die kalte Tomatensuppe wäre jetzt auf dem Tisch!», verkündete die Serviertochter fröhlich.

Freitag, 25. Mai 2012