Kein Touri-Leben in Napoli und gefüllte Zeppole...

Freitag - als Lenchen uns drängte, in der neapolitanischen Wohnung ihrer ebensolchen Schwiegermutter zu nächtigen, war das Wonne pur. «Dort sind wir dann wie richtige Neapolitaner und kochen Spaghetti, backen Pizza und bezahlen die Stromrechnung nicht» posaunte Innocent in Vorfreude auf unsern «Napoli-Trip» im Freundeskreis herum. «Trip Napoli» steht für eine «Wochenreise zum Vesuv» und nicht etwa - wie übereifrige Sprachforscher gerne falsch interpretieren - für «Neapolitanische Kutteln».

Es ist heute ganz einfach, von Basel an den Fuss des Vesuvs zu jetten - man jettet easy. Das Busticket zum Flughafen ist teurer als der Platz in der vordersten Flugzeugreihe.

In Neapel warten Sonne und ein Süssholz kauender Taxifahrer, den wir «Angelo» nennen dürfen. Man hat uns immer wieder von den vielen Wundern in Neapel erzählt, und Angelo ist eines davon: wie er den süssen Holzstengel über den einzig verbliebenen Zahn rapst und dabei das Holz zerkleinert wie Pierens Edi die gefällten Tannen, ist Zauber Nummer eins. Wunder Nummer 2 ist seine Fahrweise, die weder Rotlichter noch pfeifende Polizisten, sondern nur ein Thema kennt: «Der AC Napoli wird wieder Meister - auch wenn die jetzt ganz unten durchballern müssen. Der Fussball in Napoli hat drei Jahrtausende, 182 Erdbeben und 92 Vulkanausbrüche überlebt. Er wird auch diese Schande überstehen?»

Angelo stoppt abrupt: «? da sind wir. Wir nennen es hier das spanische Viertel!» Das hätte er nicht zu erwähnen brauchen. MIR KAM SCHON LANGE ALLES SPANSICH VOR. Etwas verunsichert hatte ich beobachten müssen, wie zum Schluss unserer Fahrt die Gassen immer enger, der Himmel immer schmaler und die Ratten stets fetter geworden sind. NA HALLELUJA. Ich schickte die spanische Schwiegermutter von Lenchen gedanklich zum Teufel! Sie hatte mich um eine Luxussuite vis-à-vis von Santa Lucia gebracht - als Innocent von der wunderbaren Wohnung in dem herrlichen, alten Palazzo zum Preis von 4 Euros die Woche hörte, strich er sofort das Schöne von Santa Lucia. NUN HOCKTEN WIR HIER MITTEN IM REICH DER MÜLLBERGE, PFEIFENDEN RATTEN UND SCHUSSSICHEREN WESTEN!

Innocent kramte nach dem Schlüssel, den Lenchen ihm in Basel mit der Bitte, die Blumen zu giessen, ausgehändigt hatte.

«NON PAGHIAMO UNA LIRA!» - brüllte eine Alte aus dem ersten Stock. Und knallte die Läden zu.

«Auguri», grinste Angelo. Und rapste wieder mit dem Holz über seinen Zahn. «Auguri - da hätten Sie die Ferien ja auch gleich in der Hölle buchen können...» Als ich Innocent mit diesem leicht weinerlichen Blick anschaute, den ich von Ruth Leuwerik aus der Trapp-Familie abgeguckt hatte, kniff er mich in die Weichteile: «Hallo Puddingfresser! Willst du denn so ein verdammter Touri sein? DAS HIER IST NEAPEL - NAPOLI VERO!»

Der Gute hat vom wahren Leben in Italien null Schimmer. Ich wusste, dies hier bedeutete: Klo ohne Schüssel und Warmwasser gesperrt.

Sonntag - «? und wo bitte ist der Blumenstock, den du begiessen sollst?», erkundigte ich mich honigsüss bei Innocent, als wir in dem Rattenloch standen, den Lenchens Schwiegeramsel ihr «Appartamentino» nennt. Ein Blumenstock hätte auch gar keinen Platz gehabt.

«Hier geht eine Türe auf eine Terrasse», meinte Innocent hoffnungsvoll. Die Türe jedoch klemmte. Mein Freund warf sich mit der Schulter ans Eisen, so dass es dröhnend krachte - aber nicht das Eisen war kaputt.

Mitten in Innocents Gejaule wurden wir von einer Alten mit der Rundung einer gut ausgewallten Pizza und in abgefuckten Filzfinken steckend beehrt. Sie stand einfach in der Wohnung. Und sprudelte in einem seltsamen Dialekt auf uns ein.

Nun zog sie an einer kleinen Lasche bei der Eisentür. WIEDER EIN WUNDER - DIE TÜRE ÖFFNETE SICH. Schon standen wir auf einem schuhschachtelgrossen Fleck mitten über Neapel. In meinem Luxushotel bei Santa Lucia hätten wir jetzt den Hafen mit den riesigen Dampfern, den Vesuv, der mich stets ein bisschen an 1.-August-Feuerzeug und die aufgeregt zupfenden Mandolinenspieler, die sie hier Pulcinella nennen, gesehen. Hier aber: FERNSEHANTENNEN? FERNSEHANTENNEN? FERNSEHANTENNEN. Dann noch ein Taubenpaar, das paarte.

Und endlich auch das zu begiessende Blumentöpfchen: eine Geranie im Gelbsuchtstadium.

Dienstag - bereits nach dem dritten Tag riefen sie Innocent «Padre Clio», weil er ihnen bei Limoncello und Babàs, diesen penisförmigen Savarins, von seiner fahrenden Reisschüssel vorgeschwärmt hatte. Fast schon hätte ich das Leben inmitten von Gemüseständchen mit Granatäpfeln und ersten Mandarinen lieben können, wenn mich nicht jeden Morgen die Glocken der Santa Francesca aus den durchgerittenen Matratzen geknallt hätten. Die Heilige meldete sich um halb fünf zum ersten Mal. Dann alle Viertelstunde bis um acht. Die Gute gab keine Ruhe, und in Neapel darf auf alles geschossen werden, nur nicht auf Kirchenglocken.

Um sechs Uhr stieg jeweils von Pipo, dem kleinen Frittenbäcker an der Ecke, eine erste Wolke von Zeppole an unsern Schragen - und um sieben Uhr sassen wir also mit dem neapolitanischen Kaffeekännchen und den heissen Krapfen, die mit Amareno-Kirschen und Zabaglione-Creme gefüllt sind, schmatzend zwischen Tausenden von Fernsehantennen.

«Wir werden Lenchen eine Karte schreiben müssen», mümmelte ich, während die Krapfenfüllung über meine Finger tropfte. «Und der Schwiegermutter kaufen wir einen neuen Geranienstock?» «Dass du auch immer gleich übertreiben musst?», seufzte Innocent.

Dienstag, 29. November 2005