Hochzeitsglocken

Ilschen heulte Rotz und Schnuder. «Hochzeits-glocken», schnüffelte sie. «Ach, die dummen Kinder. Wenn die eine Ahnung hätten» «Nicht jeder Bräutigam ist ein Halunke, Ilschen», beruhigte sie Mutter.
«Weiss mans?», unkte die Tante.
Ilschen war mit 20 Lenzen vor den Traualtar getreten. Weiss aufgerüscht. Und mit einer Lilienkrone in den schwarzgetönten Dauerwellen - na ja, wies nach dem Krieg bei Jungfrauen eben so üblich war.
Ihren Bräutigam hatte Ilschen am Treffen junger Christenseelen kennen gelernt. Das Meeting stand unter dem Motto: «Öffnet IHM Euer Herz!».
Ilschen öffnete. Aber nicht IHM. Sondern Ernest.
Die Familie war total dagegen: Erstens hatte Ernest bereits einige sexuelle Einsichten hinter und zweitens berufsmässig keine grossen Aussichten vor sich. Ernest war dritter Kellner in einer viertklassigen Weinstube. Die Wirtin hatte er nach einem Jahr Hin-und-Her-Geplänkel abserviert und dafür beim Rotwein dieser Welt dafür gesorgt, dass der Zapfen ab war.
Mutter klassierte ihn eiskalt: «Ein läufiger, säufiger Windhund!» Als dann herauskam, dass Ernest nicht nur an einer Trinkerleber kränkelte, sondern auch dreifacher Vater und vierfacher Ehemann war, sagte die Familie, was sie immer sagte: «Wir habens ja gleich gesagt!».
Ein erneuter Fehlschritt kam für Ilschen nicht mehr in Frage, wie wohl der Lilienkranz als auch das weisse Rüschenkleid mit Naphtalin verpackt sorgfältig im Kasten aufbewahrt wurden und Herr Häckerli, ein schweinsäugiger Schlachtergeselle, Ilschen jeden zweiten Freitag ein Schweinskotelett und 100 Gramm hausgeschnetzelte Poesie zukommen liess:

«Oh Ilschen mein, süss und adrett Dir schlacht ich keck ein nett
Kotelett und träum, du wärst mein sanftes Frauchen so zart
wie hier das tote Sauchen.»

Ilschen hat den Schlachter nie ermuntert. Dieser nahm sich zwei Jahre später aus enttäuschtem Herzen eine betagte Französin zur Frau. Sie hinterliess ihm nach einem Badewannenunfall ihre Knieprothese aus purem Titan sowie ein bescheidenes Vermögen. Letzteres erlaubte Häckerli, sich vom Haustock zurückzuziehen und Briefmarken (Tiermotive) zu sammeln. Da er künftig nur noch vegetarisch lebte, hörte Ilschen nichts mehr von ihm.
Natürlich war die schreckliche Hochzeitsgeschichte meiner lieben Tante in unserer Familie ein Tabu, und wenn mal jemand darüber redete, dann nur leise durch die Nase.
Und natürlich hätte ich die ganze Geschichte für mich behalten, wenn nicht Ilschen vorgestern so aufgelöst vor der Glotze gehockt und herzzerreissend geschluchzt hätte: «Hörst du die Hochzeitsglocken? Die armen, ahnungslosen Kinder?» «Krieg dich ein, Ilschen», knurrte die Oma, «Camilla und Charles haben den dritten Tau bereits hinter sich!».
«Dunkle Schatten schweben über dem Glück», unkte das Tantchen, das nach ihrem Missgriff niemanden mehr glücklich sehen konnte.
«Das sind nur Charles Ohren vor der Kamera», tätschelte ich beruhigend Ilschens welke Hand.
Sie drückte meine Finger. Dann seufzte sie: «Du bist ein feiner Kerl - aber von Hochzeit hast du keine Ahnung!»

Montag, 11. April 2005