Es ist ein heikles Thema. Und doch betrifft es alle.
Irgendwie muss nämlich jeder mal.
Wenn du auf der Autobahn in einer Schlange schwitzt oder das leise Bauchgrimmen dich bei einem Waldspaziergang überfällt, ist immer die leicht hysterische Frage: wo?
WO? ganz GROSS geschrieben. Und WO? gaaaanz dringend.
Als Kind habe ich die Sonntagsfahrten mit meiner Familie zum Horrortrip umfunktioniert. Kaum waren wir knapp zehn Minuten unterwegs? meldete sich der innerliche Druck. Und der Kleine quängelte: «Ich muss mal?»
Das anschliessende Szenario blieb in 99 von 100 Fällen identisch: sopranhoch klagende Stimme der Mutter: «Ja habe ich denn nicht gesagt, du sollst zu Hause noch??»
Knurren von Vater: «Hier kann ich nicht anhalten?» Und die Kembserweg-Omi, die ein Pfefferminz aus dem Handtäschchen knübelte: «Nimm das!»
Dann erzählte die Omi blumig von dem armen Kind, dem ähnlicher Drang widerfahren sei. Und das noch vor dem Gotthard im neuen Auto seiner lieben Eltern explodierte?
Grusel-Storys, Pfefferminzbonbons und Klosterfrau Melissengeist waren die Allzweckmittel mit denen jede Grossmutter nach dem Krieg ihre Enkel auf Trab hielt.
Natürlich begann das Kind leise (aber sehr eindrücklich) vor sich hinzujammern. Die frohe Stimmung («schaut nur wie die Kirschen an den Bäumen prall hängen») war zur Sau. Ein natürlicher Drang hob die geordnete Welt aus den Angeln. Und endlich fuhr der Vater («ich habs ja gewusst!») zur Seite.
Auf der Seite lag ein hochgeschossenes Maisfeld.
Maisfelder sind aber für das, was Mutters Schwägerin Julie einen «jetzt sagen wir Mal Tante Meier guten Tag»-Halt nannte, sehr ungeeignet. Maisfelder sind zu dicht. Die Stangen stehen Arm an Arm? wie bei einer Militärparade.
JAHALLO? GEHTS DENN NOCH?! Was denkt sich ein aussäender Bauer dabei. HAT DER NOCH NIE MÜSSEN?
Die Haut wird unangenehm von spitzen Blättern gepiesackt. Käfer, die sich an den Maisstangen festklammern, surren erschreckt auf. Wer weiss, wo sie sich nun anklammern werden? Der Kleine ruft in Panik: «Hier kann ich nicht?!»
«JAHIMMELUNDDORIA - MUSST DU ODER MUSST DU NICHT?»
«Ich muss?», schluchzt das Kind.
Die Omi fischt nach einem zweiten Bonbon. Und die Tante sagt, was die Welt alle drei Sätze immer wieder zum Kind gesagt hat: «Sei doch ein Mann!»
Doch «der Mann» war anscheinend auch nicht die Lösung. Denn Frau musste auch. Die Omi jedenfalls knübelte nun eine halbe Rolle Klopapier aus dem Täschchen. Dabei verkündete sie in der Laustärke eines Cheerleaders: «Die habe ich immer dabei? selbst wenn ich ins?Ritz? gehe!» (unnötig zu erwähnen, dass sie nie ins «Ritz» kam).
Sie schaute angriffslustig zu den andern Mitfahrern. «Wenn wir schon halten, dann will ich auch mal, schliesslich ist das ganz natürlich.» Sie gab dem Buben eine liebevolle Kopfnuss.
«Dann geh jetzt mit der Omi!», seufzte die genervte Mutter. Und schickte einen giftigen Blick zu Vater: «Deine Familie. Ich sags ja immer: Ihr seid nicht ganz dicht?» Und dann zusammenhanglos: «Ich weiss sehr wohl, weshalb ich nie Mais esse?»
Omi und der Kleine kämpften sich derweil durch diese langen Stangen mit dem eingepackten Popcorn im Blatt.
«Du gehst jetzt da rüber und drehst dich um?», befahl die Muhme. Sie zeigte mit dem Finger in Richtung noch mehr Mais. «Wehe, wenn du guckst?» Natürlich guckte ich. Es gab für einen Zehnjährigen nichts Interessanteres als die Kembserweg-Omi, die ihre Baumwoll-Junte hochzog. Die abgeschundenen Hände kämpften sich durch ein fleischfarbiges Korsett und ein gräuliches Rheuma-Band sowie einen nochmals fleischfarbenen Strumpfgürtel, an dessen schweinchenfarbigen Gummiknöpfen leicht lotternde Strümpfe in der Farbe eines dreifach aufgekochten Milchkaffees schlotterten.
Ich stierte. Und selbst der Schlachtruf «du bekommst keine Pfefferminz-Bonbons mehr, wenn du kybyzt?», konnte die Faszination nicht hemmen. Was das Zombie-Grauen von heute im Nachtprogramm, war die Leibwäsche der Omis von damals.
Vor lauter Staunen habe ich im Mais das Ziel an Ort vergessen. Entsprechend wimmerte ich nach fünf Minuten Weiterfahrt. «Ich muss mal?» Damit war die Stimmung der Sonntagsfahrt dort angekommen, wofür die Omi stets Papier bei sich führte (selbst wenn sie ins «Ritz» ging).
Heute? Die Sonntagsfahrten führen zur Autobahn-Raststätte. Allerdings sieht es dort an jenem bestimmten Ort so wild aus, wie damals im Maisfeld. Auch die lustigsten Sprüche und die heissesten Telefonnummern lenken vom Unrat der Umgebung nicht ab.
Auch die «Ein-Franken-pro-Geschäft»-Business-Stellen, die sich wie ein Panzerschrank vor dem Erlösungsmoment öffnen, sind nicht das, was sensiblen Bedrückten Erleichterung bringt. Da war die Luft im Mais besser.
Und so bewahrheitet sich Omis Losungswort, mit dem sie uns stets in die Ferien verabschiedete: «Zu Hause ists am schönsten!» (Allerdings - so ist sie nie ins «Ritz» gekommen.)
Heikles Thema
Montag, 2. Juni 2008