Grauer Morgen, gurrende Tauben

Das Erwachen ist grau. Mühsam.
Alles ist schlaff, traurig.
«MORGENDEPRESSION!» hat Hildchen, meine Freundin aus der Selbsterfahrungsgruppe, einfühlend meine Hand in die ihre genommen. Und die Traurigkeit analysiert.
Es ist sechs Uhr morgens. Die Tauben gurren sich eines. Ihr Gegurre gurrt an den Nerven. Es hat etwas Bedrohliches.
Basels Briefmarkenvögel schleppen mir Dreck und Krankheiten an. Da sind mir die aufgeregten, kleinen Spatzen schon lieber.
«Wer weiss, ob die nicht auch bereits die Vogelgrippe intus haben», unkt Innocent. Und schaut aus dem Fenster zu, wie die Piepmatzen genervt um unser Vogelhaus flattern. Die neiden einander jeden Bissen. Überall ist Neid. Überall ist Krieg.

UND DIE ZEITUNG IST VOLL DAVON.
Innocent blättert mir jeden Krieg einzeln hin:«Paris brennt. Und in ganz Frankreich streiken sie morgen», brummt Innocent. «Sie habens vorhin auch im Radio gebracht...»
Dann schenkt er mir noch ein kleines Kataströphchen mehr nach: «... im Irak ist wieder eine Bombe geplatzt. 14 Tote.»
«Herr Sägesser solls auch nicht mehr lange machen», will ich da mit schlechten Nachrichten in nichts nachstehen.
Herr Sägesser ist unser Nachbar zur Rechten. Er ist 96 und führte bis vor Kurzem den Haushalt noch alleine. Nun hat er sich beim grossen Schnee die Hüfte gebrochen
«... vermutlich kommt er nie wieder aus dem Spital heim», mache ich auf frohe Morgenkonversation.

Wir schauen beide aus dem Fenster. Die Spatzen haben sich etwas beruhigt. Sie picken von unserem Vogelfutter. Schütteln dabei aber genervt den Kopf, wie Tante Finni, wenn ihre Schwägerin beim Jassen die falsche Karte ausspielte. Und: «... Dein Duscheschlauch rinnt. Was machst du eigentlich, dass bei dir alle 18 Monate ein Duscheschlauch den Geist aufgibt?» - das ist Innocent.
«Ich dusche eben!» - das war ich.
Die Stimmung ist leicht gereizt. HEIMKRIEG!
Nun liege ich auf den Boden, wie es Thommy, mein fitter Vetter vorgezeigt hat: Zuerst flundernflach liegen. Dann Beine anwinkeln. Und rechte Hand zum linken Knie strecken.
«Dies 100 Mal jeden Morgen und du hast einen stahlharten Waschbrettbauch!» -das war Vetters Versprechen.

«Hast du die Cholesterinpille genommen?» - ruft Innocent aus der Küche.
Die Cholesterinpille erinnert mich daran, dass ich aus dem Alter des Waschbrettbauchs raus bin. Ich liege nun einfach nur noch flundernflach am Boden. Döse vor mich hin. Und «gurru...gurrruuu» rufen die Tauben. Ich kann Herrn Kreisler verstehen, der sie im Park vergiftet hat. Aus dem Bad höre ich dumpfe Schläge auf Metall. Dann ein weniger dumpfes Fluchen: «... jetzt habe ich doch tatsächlich den Duschehals abgehauen!»

Ich schaue aus dem Fenster. Auf dem kleinen Balkon stupfen die Tulpen in den braunen Terracottatöpfen.
Mein Vater hat sie noch im Herbst gesetzt: «Damit du im Frühling eine Freude hast» - hat er gesagt. Und seinen kaputten Rücken gestützt.
Die Sonne schaut kurz hinter den Wolken hervor. Sie streichelt meine MORGENDEPRESSION.
Innocent kommt strahlend aus dem Bad: «So. Schlauch geflickt. Das erspart uns eine Handwerkerrechnung von mindestens 200 Stutz...»

Montag, 27. März 2006