Tage-, wochenlang war sie am Fenster.
Ihren Namen kannten wir nicht. Mutter nannte sie nur: die Eule.
Die Eule wohnte drei Häuser weiter. Frühmorgens schon, wenn die Menschen in unserer Strasse zur Arbeit gingen, öffnete sie ihr Fenster. Klopfte ein rotes Kissen auf. Legte dieses auf den Fenstersims. Und stützte sich mit verschränkten Armen darauf.
So verharrte die Eule regungslos. Nur ihre stechenden Augen wanderten hin und her. Sie sahen alles. Und wenn ich mal wieder den Ballettschritt drauf hatte, knuffte mich Mutter in den Arm: «Du bist keine Ballerina, lauf anständig, die Eule sieht dich und erzählt es weiter.»
Das mit dem Weitererzählen war ein Gerücht. Denn obwohl die Eule sicherlich einen guten Reporter abgegeben hätte, hat sie all den Klatsch und die Geschichten, die ihre Augen aufsaugten, nie rumgetratscht. Ja, keiner hat sie im Quartier anderswo gesehen, als am Fenster. Und keiner wusste, von was oder gar mit wem sie lebte.
Der Tyrann. Natürlich kursierten Geschichten: Die einen wollten wissen von ihrem Mann, einem gewalttätigen Despoten, dem sie aber verfallen gewesen und der eines Tages für das berühmte «ich hol mal Zigaretten»-Päckchen weggegangen sei. Die Eule habe seither das Haus keine Stunde mehr verlassen. Jeden Tag würde sie am Fenster nach ihrem Tyrannen ausspähen. Andere behaupteten, die Eule sei früher als Kartenleserin von Jahrmarkt zu Jahrmarkt gezogen. Sie habe treffsicher die Zukunft vorausgesagt. Und mit ihrer Gabe mehr verdient als sieben Bundesräte zusammen. Es gab auch das Gerücht, die Eule sei Gefängniswärterin gewesen. Und nach einer unschönen Episode im Frauentrakt zwangspensioniert. Aber eben: Genaueres wusste niemand? nur dass man sie jeden Tag auf ihrem Kissen gestützt am Fenster sehen konnte.
UND DAS WAR NUN NICHT GERADE ETWAS BESONDERES.
In den 50er-Jahren waren Menschen auf den Fensterkissen Alltag. Da flimmerte noch keine Kochshow am Fernseher. Und am Radio war kein Quiz zu gewinnen. Die Welt war eben erst aus einem verbombten Albtraum erwacht. Und wollte neu entdeckt werden.
Zog der Herbst ins Land und wurden die Tage vor dem Fenster kälter, sah man nun den weissen Kopf hinter einem leicht vergilbten Tüllvorhang. In den Adventswochen funkelte ein roter Kartonstern am Fenster.
Hinter den Scheiben ahnte man die stechenden Augen, wie sie das Quartier überwachten. So blieb die Eule die Winterzeit hinter Glas. Wir aber warfen auf dem Heimweg verstohlen einen Blick zu ihrer Wohnung? und korrigierten unverzüglich unseren Ballerinaschritt.
Im April oder Mai, wenn das Wetter wärmer wird, wurde auch das Kissen wieder aufgeklopft. Und auf den Sims gelegt. Mutter kommentierte es beim Suppeschöpfen: «Der Sommer kommt? die Eule ist draussen!»
Es war im Mai, als die Frau am Fenster nachts nicht mehr in ihre Wohnung zurückkehrte. Sie hatte, als es bereits dunkel war, noch immer ihren Kopf auf den verschränkten Armen aufgestützt? und schien eingeschlafen zu sein. Am dritten Tag fuhr die Polizei vor. Und der Totenwagen. Das Fenster wurde geschlossen. Der vergilbte Tüllvorhang gezogen. Für immer.
Zwei Monate später zog eine jugoslawische Familie in die Wohnung ein. Die Fenster blieben künftig zugesperrt. Aber hinter den Scheiben sah man ein bläuliches Licht, das aufgeregt flimmerte. Und bald einmal alle Eulen von den Fensterbänken weglotste.