Ein bisschen Weihnachtsglück für Rosa

Die alte Frau betrachtete den Weihnachtsmann auf dem Schlitten. Als Kind hatte sie eine solche Kugel am Baum gehabt.
Rosa seufzte. «Lange her.»
«Heute ist der letzte Tag», lachte der Stand­verkäufer. «Ich gebe ihn für die Hälfte.»
«Danke», flüsterte Rosa. Und: «Das ist für mich immer noch viel zu teuer.» Etwas geniert fügte sie hinzu: «Ich habe nur die AHV, da macht man keine grossen Sprünge!» Rosa hatte ein Leben lang gearbeitet. Schneiderin. Sie besserte Blusen aus, setzte Reissverschlüsse ein, änderte Hosen.
Die Frau, die neben Rosa stand und sich eine «Schneekirche» einpacken liess, lächelte ihr zu: «Sie sollten sich helfen lassen. Es gibt Ergänzungsleistungen.»
Rosa hatte sich nie helfen lassen. Sie war zu stolz. Um Geld bettelte man in diesem Lande nicht. Aber das Geld wurde immer weniger, alles immer teurer.
Rosa teilte ihren Monatsbetrag jedes Mal in verschiedene Couverts auf: Mietzins... Krankenkasse... Essen. Der einzige Posten, bei dem sie sparen konnte, war das Essen. Also kaufte sie Aktions-angebote? und das Brot vom Vortag. Natürlich war auch Lukas ein Posten. Rosa lächelte in Gedanken an ihren Kater. Für den Heiligen Abend hatte sie ihm eine besondere Leckerei eingekauft? ein Pouletbrüstchen. Luxus pur. Aber immerhin war Weihnachten. Und zumindest Lukas sollte ein Festgeschenk haben.
Vor dem Stand herrschte nun ein emsiges Hin und Her. Eine Frau rief genervt nach einem Baumspitz? ihr war die Tanne am Morgen beim Schmücken gekippt. Und Rosa lächelte. Konnte ihr nicht passieren. Sie hatte einfach nur einen Ast, den ihr der Weihnachtsbaumverkäufer an der Ecke geschenkt hatte. Darauf wollte sie ein paar alte Kugeln legen.
«Es ist falsch, wegen der Unterstützung Hemmungen zu haben», sagte nun die junge Frau neben ihr und verstaute ihre Schneekirche in einem Rucksack. «Ich arbeite beim Sozialamt. Glauben Sie mir, es gibt viele, die Geld bekommen und es weniger nötig hätten als Sie...»
«Ja», mischte sich nun ein Mann mit Nickelbrille ein, «es ist eine Schande, wer da alles von ­unserem Sozialsystem profitiert. Immer nur faule Ausländer...»
«DAS STIMMT GAR NICHT», ärgerte sich die junge Frau. «Es sind mindestens ebenso viele Schweizer, die Geld holen und...»
Wo man einander kaum beachtet hatte, war vor dem Weihnachtsstand plötzlich eine rege Diskussion im Gange. Eine aufgebretzelte Fuchspelzlady wetterte: «Am besten man flieht die Weihnachtstage. Ist doch alles nur eine verlogene Sache mit Friede, Freude, Eierkuchen.»
«NEHMEN SIE NUN DEN SCHLITTEN-KLAUS?», fragte der Händler Rosa energisch. Zwölf Franken ist mein letzter Preis. Da haben Sie ihn quasi umsonst.»
Zwölf Franken!? Davon mussten ihr Kater und sie drei Tage leben.
«Ich hätte ihn schrecklich gern», seufzte Rosa, «als Kind hatten wir einen solchen. Immer wenn wir in die Stube zum Weihnachtsbaum gerufen wurden, suchten ihn meine Augen als erstes. Er gab mir so etwas wie Sicherheit. Hier war ich daheim. Hier war alles gut.»
Sie hatte ganz leise gesprochen. Und das Palaver rund um den Stand war verstummt. Die Leute schauten die alte Frau in ihrem dünnen Wollmäntelchen still an. Schliesslich öffnete die Schnee­kirchen-Frau noch einmal ihren Rucksack. Sie zückte ihr Portemonnaie heraus: «Geben Sie der Frau bitte den Schlitten-Klaus», sagte sie zum Verkäufer.
«Nein. Ich will das nicht», unterbrach Rosa sie hastig.
Die junge Frau schaute sie mit lächelnden Augen an. «Sie machen aber mir eine Freude, wenn Sie ihn nehmen.» Und dann leiser. «Es ist gar nicht so einfach, heute jemandem eine Freude bereiten zu dürfen. Jeder hat alles. Und doch nichts...»
«Stimmt», nickte da die Frau im Pelz. Und dann zu Rosa: «Suchen Sie sich sechs Vögel aus... ich möchte auch eine kleine Freude machen!»
Plötzlich herrschte vor dem Stand grosse Aufregung: Jeder wollte der alten Frau etwas schenken, eine Glimmerkugel... ein Glaspilzchen... eine Baumkette.
«Jetzt macht mich doch nicht verrückt», lachte der Verkäufer, «ich hätte der Frau den Klausen-Schlitten eh geschenkt. Schliesslich ist Feierabend. Und wir schlies­sen in zehn Minuten. Unsereins will ja auch nach Hause unter den Baum.»
Rosa aber stand einfach stumm da. Jeder schob ihr ein Paketchen zu. Die Frau, die ihr den Klausen-Schlitten geschenkt hatte, schob noch ihre Visitenkarte nach: «Bitte kommen Sie einmal bei mir vorbei. Das ist die Adresse. Ich weiss, dass sich Menschen wie Sie nicht gerne helfen lassen. Da ist Scham. Ich respektiere solche Gefühle. Aber denken Sie einfach, ich sei das Christkind. Und Helfen ist ja mein Job... oder wollen Sie, dass das Christkind ohne Arbeit ist?»
Die andern Menschen lachten. Plötzlich waren alle heiter, fröhlich? die Frau im Fuchspelz drückte Rosa gar an sich: «Irgendwie haben Sie mir Weihnachten gerettet, alles um mich herum wirkte so kalt. Und abgelöscht. Aber dieser Moment hier hat mir gezeigt: Es gibt noch menschliche Gefühle in dieser Welt!»
Als Rosa heimwärts lief, begann es zu schneien. Kirchenglocken läuteten den Heiligen Abend ein. Sie schüttelte fast ungläubig den Kopf, als sie ihre vielen Päckchen mit den diversen Weihnachtskugeln betrachtete. Dann lachte sie fröhlich auf: Lukas wird Augen machen!
Die alte Frau spürte plötzlich ein Glücksgefühl. Sie hatte gespürt: Die Menschen sind besser als ihr Ruf, besser, als man über sie im Fernsehen hört oder in den Zeitungen liest.
Ein kleiner Junge hüpfte an der Hand seines Vaters an ihr vorbei: «Frohe Weihnacht!», rief er ihr übermütig zu.
«Fröhliches Fest», lächelte Rosa zurück.

Sonntag, 23. Dezember 2012