Im Büro war es stickig.
Ernst, der jüngste Polizist in der Runde, riss die Fenster auf: «Lasst den Frühling rein! Gestern war letzter Bummelsonntag? der Winter ist endgültig vorbei!»
Max, der Chef und von allen nur als Meckerer-Max betitelt, schaute kurz ins Posten-Zimmer: «Herrgott? es zieht. Wollt ihr euch alle die Grippe an den Ranzen holen. Schliesst die Fenster!? Irgendwelche Vorkommnisse am Bummelsonntag?»
Sie schüttelten den Kopf. «Nichts? das heisst: Es sind nochmals zwei Trommeln gestohlen worden. Ansonsten wars ruhig.»
In diesem Moment stürmte Gaby in den Raum. Sie war verspätet. Und das war bei der jungen Polizistin schon fast eine Sensation.
Ihre Kollegen schauten verwundert auf, als sie drei Packungen mit Berlinern, Weggli und frischen Gipfeln auf dem Tisch ausbreitete. Gaby war nun wirklich nicht das, was man eine gesellige Seele nennen konnte. Im Gegenteil. Sie war eiskalt. Und machte der Runde nicht eitel Freude. Die einen nannten sie «die kalte Sophie», die andern «das Zürcher Übel». Aber alle hatten Respekt vor ihr. Sie war sicherlich die fähigste unter der jungen Generation.
Und nun plötzlich die Wandlung der Gruppenleiterin vor dem Herrn: «Ich danke euch allen für den Super-Einsatz an der Fasnacht; ihr ward grossartig. Und ich eine dumme Kuh. Besonders in der Sache mit dem verlorenen Rico? sorry, ich muss euch mit meiner Art wohl schon lange schaurig auf den Wecker gegangen sein.»
Alle schauten einander an. «Hört, hört!», flüsterte Ernst.
«Ich weiss, dass die Weggli das nicht alles gutmachen können, aber ich verspreche, mich ein bisschen an die Leine zu nehmen. Und die Basler Gangart einzuschalten.»
Dann setzte sie sich an den Tisch: «Irgendwelche Neuigkeiten?»
Jeannette, die ältere Kollegin, balancierte Kartonbecher mit Automatenkaffee an: «Nichts. Alles o.k. Nur wieder zwei als gestohlen gemeldete Trommeln.»
Gaby horchte auf: «Und wie viele sind es nun insgesamt?»
«Dreizehn», meldete Ernst.
Gaby schaute abwesend auf ihre Hände: «Das habe ich befürchtet», flüsterte sie. Und dann lauter: «Hockt euch mal hierher. Ich muss da eine Geschichte loswerden...»
Der letzte Bummelsonntag war wie ein Erdbeben gewesen. In der Freien Strasse waren sie in Fünferreihen angestanden, um die vorbeigockelnden Tambourmajoren zu bestaunen.
Gaby hatte mit ihrem Kollegen Max langsam eine Runde im Streifenwagen gedreht. Nein. Sie konnte diese Stadt auch nach drei Jahren noch nicht einordnen, sich nicht richtig einfühlen. Das bekümmerte sie? wie alles, was sie nicht im Griff hatte.
Die Fasnacht aber war das Allerschlimmste? nicht nur, weil sie als Zürcherin in Uniform an diesen Tagen zehnfach mit Spott und Räppli eingeseift wurde. Sie kapierte einfach nicht, wo der Witz der Sache war. Keiner lachte. Sie trommelten drauflos, als gings in den Krieg. Die Masken flössten ihr mitunter richtig Angst ein. Und sie fühlte sich als Outsider, ausgeschlossen? ausgesetzt auf einer Insel mit wilden Ausserirdischen, die nicht ihre Sprache redeten. Und nicht in ihrer Gangart liefen.
Am Fasnachtsmittwoch hatte sie Dienst am Steinenberg. Bis dahin war alles gut gegangen? keine Unfälle. Nur ein Mann, der ausgerechnet in der Morgestraich-Druggede eine Herzkrise bauen musste. Und dann mit Blaulicht abtransportiert wurde. Und natürlich immer wieder diese total aufgelösten Trommelhunde, die auf dem Posten den Verlust ihres Kübels meldeten. Die Tambouren gebärdeten sich total hysterisch? als hätte man ihnen ihr Kind entrissen. Gaby fand das schrille Getue lächerlich.
Elf Trommeln fehlten insgesamt. Mehr als sonst. Aber man wusste ja, dass die glitzernden Trommeln ein beliebtes Souvenirobjekt bei den Touristen waren. Die Cliquen müssten da eben mehr in Eigenverantwortung genommen werden. Es war nicht Sache der Polizei, an einem Beizenhalt Kindermädchen zu spielen? und das Inventar, das da achtlos draussen herumlag, zu bewachen, während die Aktiven ihr Bier runterzwitscherten.
Mecker-Max hatte am Mittwochabend auf den Tisch gehauen, als man ihm erklärte, dass deutsche Touristen wieder zugeschlagen hätten: «Wollt ihr mich verarschen? das sind doch keine Touristen! Das ist eine abgekartete Sache: Trommelhändler aus dem Osten. Oder eine Kübelmafia.»
Gaby hatte ihn ziemlich kalt unterbrochen: «Blödsinn. Wer kauft ausser in Basel schon so etwas Unmögliches wie diese glitzernden Kübel, die unpraktisch, schwer und? mit Verlaub? nicht besonders ästhetisch sind.»
«Das verstehst du nicht», hatte Max geknurrt. «Was kann man von einer Zürcherin schon anderes erwarten?»
Gaby zuckte leise zusammen. Da war er wieder? dieser Seitenhieb nach Blocherland. Diese Basler hatten einfach einen Wahn. Sie glaubten tatsächlich, sie würden anders ticken als das übrige Helvetien.
Ihr Chef fuhr nun ruhiger fort: «Sie machen Schirmständer daraus oder Barhocker. Ich habe mal selber so einen in Köln in der?Hubert?s Saufmeilen-Pinte? gesehen!»
Gaby wollte nicht widersprechen. Sie hatte am Mittag am Cortège keine besonders gute Figur gemacht. Ein Passant gab bei ihr einen kleinen, heulenden Bub ab. Sie wollte ihn ausfragen. Aber der Kleine gab nie eine Antwort, heulte einfach drauflos. Da hatte sie die Nerven verloren. «Verdammt nochmal? du hast doch einen Namen!»
Ernst war dann hinzugekommen. Hatte dem Kleinen einen dieser Waggiswagen-Lutscher hingestreckt. Und sich zu ihm niedergekniet. «Ja hallo? Wen haben wir denn da? Magst du Schläggstängel?»
Es stellte sich heraus, dass der Kleine Rico hiess. Keine Schläggstängel mochte. Sondern lieber an einem Rüebli knabberte.
Ernst hatte bei einem Waggiswagen hurtig so ein Gemüse erbettelt, es mit dem Sackmesser geschält und Rico hingestreckt. «So. Und jetzt rede ich in diesen Apparat und sage meinen Kollegen, dass der kleine Rico seine Omi sucht, dann haben wir sie schnell gefunden!»
Nach fünfzehn Minuten tauchte tatsächlich eine japsende, verheulte Alte am Steinenberg auf. Und holte Rico, der ihr strahlend den Schläggstängel entgegenstreckte, bei Ernst ab.
Gaby seufzte, wenn sie an die Szene zurückdachte: Sie hatte zwar die Polizeischule als Beste abgeschlossen und galt als Alfa-Tierchen in ihrer Gruppe? aber sie musste noch viel, viel lernen...
Jetzt aber war der Spuk, ja die ganze Fasnacht schon seit drei Wochen vorbei. Gaby linste zu der Trommelgruppe, die sich mit einer letzten Daagwach von der Fasnacht und ihren Bummelsonntagen verabschiedete. Plötzlich war es totenstill in der Stadt. Und die Polizistin schüttelte den Kopf: «Mir scheint, diese Stadt lebt wirklich nur an der Fasnacht.»
SCHWANKENDE TANNE. Als sie dann kurz vor Mitternacht über die Mittlere Brücke zum Claraposten zurückfahren wollten, fiel Gaby ein einsamer Tambour mit Halblarve auf: Er ruesste mit Inbrunst auf dem Kübel, während sein Kollege? ebenfalls mit Halblärvli? neben ihm schwankte wie die Tanne im Sturm.
«Die halten wir mal an», gab Gaby bei Ernst die Order durch. Der Trommler zeigte ihr den Ausweis? er war Elsässer. Die schwankende Tanne auch. Der inbrünstige Trommler aber nahm Gaby ins Visier und wollte wissen, ob die Basler immer so heisse Polizistinnen auf Lager hätten.
Gaby schaute ihn eiskalt an. O.k. Er hiess Otto. Und sah verdammt gut aus. Irgendwie erinnerte er sie an Lukas, ihren letzten Freund aus Zürich. Als sie den Posten in Basel antrat, war die Pendlerei für ihre Beziehung natürlich Gift. Und als sie Lukas dann eines Abends in der gemeinsamen Zürcher Wohnung mit ihrer besten Freundin überraschte? war das der Schlusspunkt: Sie packte die Koffer. Und zog nach Basel. Für immer. Seither schottete sie sich ab? gegenüber Männern, ja überhaupt gegenüber den Menschen.
Nun nickte Gaby dem schönen Otto zu: «Sie kommen mit mir. Ihr alkoholisierter Kollege kann ihre Trommel nehmen. Und abzischen. Trommeln ist ab zehn Uhr nicht mehr erlaubt. Auf dem Posten bekommen sie eine Quittung über die Ordnungsbusse von 100 Franken!»
Die schwankende Tanne zog murrend mit den beiden Kübeln ab? der schöne Otto aber begleitete die Polizistin auf den Claraposten. Nachdem er die Busse bezahlt hatte, ging er. Und wartete beim Eingang an der Clarastrasse auf sie: «Darf ich Sie noch ein Stück begeiten?»
Gaby wusste nicht, was mit ihr los war. Sie liess es wortlos geschehen. Sie nahm den Mann sogar in ihre Wohnung. Und dann erzählte sie ihm, wie unglücklich sie in Basel sei. Keiner verstehe sie. Alle würden nur kleindenkerisch an ihrem Limmat-Dialekt rumnörgeln. Und sie konstant hochnehmen.
«Die Basler sind immer anders gewesen», grinste Otto, als er die Flasche, die Gaby auf den Tisch brachte, öffnete. «Sie haben einen Humor, der scharf ist wie junger Rettich; wir Elsässer bekommen das ja auch immer wieder zu spüren. Andrerseits haben sie ein Herz aus Gold, wenn man sie endlich kapiert hat. Aber das ist schwierig. Am Rhein herrscht eine andere Gangart. Besonders bei den Fasnächtlern!»
«Wo wohnst du im Elsass?»? Gaby schaute Otto an. Der Mann gefiel ihr immer besser. Irgendwie gab er ihr nach langer Zeit wieder einmal das Gefühl eine Frau, nein, ganz einfach ein Mensch zu sein.
«Ich bin mal hier, mal dort. Mein Beruf bringt es mit sich, dass ich herumreise, aber jede Fasnacht komme ich nach Basel. Das lasse ich nie aus. Als Kind hat mir der Patron meiner Mutter die Trommelstunden in einer jungen Garde bezahlt. Meine Mutter putzte bei einem Basler Chemie-Direktor. Ich glaube, diese Zeit in der jungen Garde war die glücklichste in meinem Leben. Vielleicht komme ich deswegen immer jeden Morgestraich hierher, um diese Zeit noch einmal zu suchen.»
Er wollte dann viel über Gaby wissen. Sie erzählte von Lukas. Von der verratenen Liebe. Und wie ihre Kollegen über sie grinsen würden.
«Vielleicht gehst du zu wenig auf die Leute hier ein; die Basler sind Mimosen. Sie machen harte Köpfchen, wenn man ihnen einen kalten Wind entgegenbläst. Und sie sind zart und sonnig, wenn man ihnen zeigt, dass man sie gern hat.»
Gaby lachte laut auf. «Aber das ist doch kindisch.»
Otto nahm ihre Hand: «Nein. Es ist menschlich. Und gar nicht typisch baslerisch? denn alle Menschen ticken so!»
Sie redete dann über ihren Beruf. Und darüber, dass sie den Job liebe? auch wenn er manchmal ätzend sei, wie eben an der Fasnacht: «Wir stehen da herum. Und müssen uns von allen anmachen lassen. Immerhin? viel war dieses Jahr nicht los. Manchmal ein Schluckspecht wie dein Freund, der überbordet. Oder dann elf gestohlene Trommeln? als ob die Stadt keine anderen Probleme hätte.»
WIE EIN ZIGEUNER. Die Nacht mit Otto wurde ein Ritt durch das Feuer. Sie spürte plötzlich, wie ein Eisgürtel gesprengt wurde, wie alle Schwere von ihr fiel. Sie schwebte in einer anderen Galaxis? leicht wie eine Seifenblase. Und als sie am anderen Tag erwachte und kein Mann neben ihr lag, war sie auch nicht traurig? Otto hatte gesagt: «Ich muss weiter, wie ein Zigeuner; vielleicht sehen wir uns wieder einmal. Vielleicht auch nicht, aber versuch die Menschen zu lieben. Es ist das ganze Geheimnis zum Glück.»
Er hatte ihr den Frühstückstisch gerichtet. Und auf ein Blatt Papier eine Mimose gezeichnet: «Ich danke dir für alles. Du bist wunderbar? und versuche einfach diese Stadt zu verstehen. Sie wird die kleine Zürcherin lieben? wie ich auch.»
Dann hatte er noch ein PS auf den Zettel gekritzelt: «PS. Es sind übrigens dreizehn.»
«Sie hat sich total verändert», flüsterte ein paar Stunden später Ernst zu Jeannette, als sie alle am runden Tisch Platz nahmen. «Irgendwie sieht sie glücklich aus, jedenfalls fröhlicher, weicher.»
Jeannette grinste: «Die Fasnacht hat schon viele und vieles verändert.»
Gaby aber schaute in die Runde. Ihre Augen lachten. Und sie gab sich einen Ruck: «Also, ich muss da eine Geschichte loswerden...»