Der Comment

Mutter hatte es mit dem Comment. Grossmutter noch ärger.
Das war die Meyer-Seite. Meyer mit Ypsilon. Und deshalb etwas Besonderes.
Die Vaterseite warf den Comment total über den Haufen. Und die Ypsilons rümpften die Nase. «Typisch? schnitzt sich ein teures Zündholz zu einem Zahnstocher. Und stochert damit ungeniert sein Amalgam durch. HIER IST ABER JEMAND WIRKLICH MIT DEM SECHSERTRAM DURCH DIE KINDERSTUBE GEFAHREN?!»
Vater nahms gelassen. Ihm war der Comment piepegal. Er hatte seine eigenen Regeln. Und wenn ich heute noch auf dem Büroweg von asthmatischen Mütterchen mit tränenden, roten Äuglein angemacht werde: «Ach Ihr lieber Vater? der hatte es noch drauf!», dann weiss ich, dass damit nicht der Comment gemeint ist. Und man mit dem andern auch durchs Leben kommt.
Der Benimm wurde uns eingedrillt, wie Zwirbelhund das «Männchenmachen» und «Platz!».
So durften wir beim Suppenlöffeln nicht schlürfen. Wir mussten den Arm mühsam nach oben heben. Und? WEHE!? wenn wir nach dem letzten Löffel rülpsten.
Onkel Alphonse (Vaterseite) rülpste immer. Sehr zum Gaudi von uns Kindern. Er genoss es, die vornehmere Tischseite auf die Palme zu bringen. So leckte er den Löffel ab, dass Mutter Gänsehaut bekam. Dann hielt er die Luft an. Und liess donnernd den Rülpser raus. «ALPHONSE!»? die Ypsilons erhoben sich synchron im Protest.
«Ja, ich weiss? nicht comme il faut. Macht aber Luft!», grinste der Onkel.
Rosi und ich wurden zu jener Zeit mit vielen «Comments» konfrontiert: Man geht nicht ohne Handschuhe aus dem Haus? man kaut mit geschlossenem Mund. Frauen werden suspekt, wenn sie sich in der Öffentlichkeit eine Zigarette anflammen? UND SPIEGELEIER WERDEN NICHT MIT DEM MESSER GESCHNITTEN!
Dies alles wurde uns mit dem mahnenden Satz eingekämmt: «Wenn ihr einmal bei der Königin eingeladen seid, wollt ihr doch eine gute Falle machen?!» Da ich schon damals aufs Krönchen scharf war, lernte ich das Spiegelei ohne Messer zu essen.
Nach der Konfirmation kamen wir zu Frau Bickel in die «Eisfabrik». Sie führte uns in ihrer Tanzschule nicht nur in die Tangoschritte ein. Sie lehrte uns auch den Benimm gegenüber dem andern Geschlecht.
Auf der einen Seite des Tanzsaals sassen die Burschen. Vis-à-vis die Mädchen. Voraussetzung bei beiden war Cocktailkleid (Mädchen) oder dunkler Anzug (Burschen). Ledersohlen galt für beide Geschlechter.
Mutter bügelte das Konfirmandenkleid auf und liess meine Sonntagsschuhe bei Schuster Ruppli von Gummi auf Leder umsohlen. Dann bezahlte sie das Kursgeld, was meinen Vater erbleichen liess: «Das gäbe gut zwölf Kasten Bier, Lotti!»
Mutter eisig: «Den Comment kann man nicht teuer genug bezahlen, Hans!» Und dann: «Wie soll er sich als Bundesrat einmal benehmen können, wenn sein Onkel in der Öffentlichkeit rumrülpst?»
Bei Frau Bickel lernten wir dann auch, dass man trotz der herrlichen Ledersohlen nicht übers Parkett schlittern darf, um sich vis-à-vis als erster die Schönste zu pflücken. Nein. Wir hatten «adagio» zu den Frauen zu gehen, einen Knicks anzudeuten und «Ist es gestattet?» zu sülzen. DAS WAR EINE GANZ NEUE WELT. Onkel Alphonse klatschte jeweils am Samstagstanz im Hopfenkranz dem Rösli auf den Allerwertesten und sagte ganz einfach «Komm!».
Wir wussten jetzt, dass wir so etwas bei der Königin auf keinen Fall machen durften.
Als wir nun letztes Jahr auf der Insel Besuch von Anna-Luisa bekamen, und die uns ankündigte «Ich bringe euch eine italienische Prinzessin mit», so war dies zwar nicht die Königin. Es genügte aber, mich in Panik zu versetzen und meinem Freund Innocent in einer Schnellbleiche all das einzupauken, was Frau Bickel und den Ypsilons unserer Familie heilig war: «? und vor allem: VERKNEIFE DIR JEGLICHE ART VON LUFTABLASSEN!»
Die Prinzessin sah dann nicht aus, wie eine solche? ich meine: weder Krönchen noch lange Schleppe.
«? ihr Geschlecht geht bis zu den Medicis zurück!», raunte Anna-Luisa. Und versuchte geniert mir das verhutzelte Etwas in den zu weiten Reithosen aufzurüschen.
Als sich dann dieser Überbleibsel der italienischen Kronjuwelen gar noch eine Zigarette vor dem ersten Gang ansteckte und Innocent nach einem Bier fragte, warf mir Letzterer einen triumphierenden Blick zu, wie damals Onkel Alphonse zu Mutter, als der Pfarrer das Eigelb vom Messer leckte.
Ich aber strich die Minestrone vom Menü.

Montag, 25. Februar 2008