Der Barbiere

Andrea bückte sich. Sein Atem ging knapp. «Ich sollte aufhören...», dachte der Barbiere. «Aufhören mit allem...»
Dann schloss der 78-Jährige mühsam das Eisengitter vor seinem Barbiergeschäft im römischen Getto? ein Laden, in dem schon sein Grossvater Bärte rasiert und Haare geschnitten hatte. Und dessen Grossvater davor.
«Der älteste Barbiere im Getto...», hatte ein Lokalreporter einmal in einer Reportage geschrieben.
Andrea hatte den Artikel ausgeschnitten. Und neben dem grossen, ovalen Spiegel an die Wand geklebt.
Er war im «Getto» geboren, diesem römischen Quartier von drei Hektaren, das Papst Paul IV. anno 1556 für die Juden nahe beim Tiber ummauern liess. Sie durften die Mauern nur am Tag verlassen. Freitags mussten sie sich in einer der vier Kirchen die Predigten der Franziskaner anhören. Und stopften sich Wachs in die Ohren? so hatte es Andrea als Kind immer wieder erzählt bekommen.
Die Mauern kamen erst 1870 weg. Doch kaum ein halbes Jahrhundert später, unter Mussolini, wurden die Juden wieder ins Getto getrieben. Und als 1943 in jener Oktobernacht die Gestapo das Quartier stürmte und die Menschen nach Auschwitz abtransportierte, da hatte Andrea Glück gehabt. Er hatte sich mit ein paar Freunden zum Kastanien-Einsammeln nach Monte Porzio aufgemacht.
Als er heimkehren wollte, fing ihn eine Ordensschwester vor dem menschenleeren Getto ab. Und versteckte den Jungen im Kloster. Dort blieb er, bis der Wahnsinn zu Ende war.
Er war damals einer der wenigen, die wieder ins Getto heimkehrten. Handgrosse Metallschilder erinnern jetzt vor den Haustüren am Boden an alle, die nicht mehr zurückgekommen sind. Mit der Zeit sind auch die Namen darauf verblasst.
Und die Metallplättchen liegen wie heruntergefallene, erloschene Sterne auf dem grauen Pflaster. Andrea spricht nicht über jene Zeit. Aber er träumt jede Nacht davon. In seinen Träumen sieht er die Wohnung, wie sie aussah, als er heimkehrte: die leeren Stühle am gedeckten Küchentisch, die sieben Teller, die Gläser? so, als wären alle nur mal kurz weggegangen.
Er hat damals das Eisengitter zum Barbierladen wieder hochgehievt. Und neu angefangen? neu.
In der alten Tradition und Geschichte.
Sein erster Kunde war ein amerikanischer Soldat gewesen. Er hatte ihn beim Rasieren mit der scharfen Klinge geschnitten. Andrea hatte keine Barbiere-Ausbildung. Aber er hatte den «Barbiere» im Blut. Seine drei Söhne drangsalierten ihn seit Jahren, das Messer endlich abzulegen. Sie waren im Stoffhandel. Alle. Und die Grosskinder? der ganze Stolz von Andrea? studierten in Tel Aviv und London.
An jenem Tag, als eine Gruppe von schwarz gekleideten, betrunkenen und randalierenden Burschen den Coiffeurladen betrat, als sie Andrea zwangen, ihnen mit seinem Elektroschneider Hakenkreuze in ihr dichtes, kurzes Haar zu fräsen, da wehrte er sich nicht. Auch nicht, als sie den Spiegel zerschlugen und lachend weiterzogen.
Er sass einfach eine Stunde lang auf dem Barbierstuhl.
Zitterte. Weinte.
Dann schloss er das Eisengitter: «Ich sollte aufhören... aufhören mit allem.»
Der Artikel über den ältesten Haarschneider im Getto klebte noch immer an der Wand. Etwas vergilbt. Neben dem zerbrochenen Spiegel.

Montag, 18. Juni 2012