Wortlose Weihnacht

«Sie sind am Radio gekommen!» strahlte Schwester Anita die alte Frau im Krankenbett an.» Ich wusste gar nicht, dass Sie Hebamme gewesen sind?» Das weisse Gesicht in den noch weisseren Kissen gab keine Antwort. Es hatte die Augen geschlossen. Die Gedanken jagten wie Raketen durch den Kopf.

Anne Schweizer dachte an ihre Weihnachtsfeiern von einst. Als junge Waise hatte sie im Mädchenchor gesungen. Sie waren als kleine Gruppe während der Adventszeit von Tanne zu Tanne gehastet. Immer: Leise rieselt der Schnee? Immer: zweite Stimme. Immer ein Kopfdätscheln und etwas Schokolade.

Sie hatte damals von einer Familie geträumt - einer richtigen Familie, mit der sie einmal unter dem Weihnachtsbaum alle diese Lieder singen würde. Die Weihnachtsfeiern im Waisenhaus waren schön gewesen. Es hatte an nichts gefehlt. Und doch: dieser eine Weihnachtswunsch, den Anne schon als kleines Mädchen dem Christkind geschrieben hatte: «Schenke mir bitte eine eigene Familie» dieser Wunsch war nie in Erfüllung gegangen.

Anne wurde Hebamme - und schliesslich schwanger. Das Glück war verheiratet - er hatte seine eigene Familie. Anne war das, was man zu ihrer Zeit missbilligend «eine ledige Mutter» nannte.

Immerhin - sie feierte nun Weihnachten mit ihrer kleinen Tochter. Lisbeth wurde ihr ganzer Lebensinhalt. Als Lisbeth dann schreiben konnte und den ersten Wunschzettel mit aufgeklebten Goldsternen abgab, stand da: «Liebes Christkind, ich wünsche mir einen Vater.»

Da hatte Anne geweint.

Anne arbeitete als freie Hebamme wie ein Pferd. Lisbeth sollte studieren. Und es sollte ihr an nichts fehlen.

Zuerst schlug die Tochter die medizinische Laufbahn ein. Dann interessierte sie sich für Nationalökonomie. Und schliesslich wechselte sie auf Philosophie.

Als sie sich mit 27 Jahren für professionellen Tanz entschied, sprach die Mutter ein ernsthaftes Wort. Die Tochter tobte: «? es ist m e i n Leben. Wenn ich einen Vater hätte, wäre alles anders!».

Anne weinte wieder.

Lisbeth wurde Tänzerin - modern Style. Die beiden Frauen gingen ihre eigenen Wege - Anne als Hebamme. Lisbeth als Tanzlehrerin.

Zuerst feierten sie noch gemeinsam das Weihnachtsfest. Doch sie sassen einander wortlos gegenüber - denn jedes Wort wäre wie Feuer im Zunder gewesen.

Bald hörte Anne nichts mehr von ihrer Tochter. Mit 80 Jahren trat sie ins Altersheim ein. Nun feierte sie Weihnachten mit ihren Mitinsassen. Es war wie als Kind im Waisenhaus - gemütlich. Aber die Familie fehlte. Immerhin: Die Tränen waren mit den Jahren versiegt. Anne weinte nie mehr.

Vor sieben Jahren verkündete man Anne, sie sei nun die älteste Bewohnerin des «Sonnecks». Da beschloss sie 100 zu werden. Irgendein Ziel musste das Leben haben. Und da ihr Geburtstag auf den 24. Dezember fiel, machte sie sich das Ziel zum Weihnachtsgeschenk.

Nun lag sie da. Im Radio hatte man ihr am Morgen das «Guggerzytli» gespielt.

Schwester Anita, die am Abend eine ältere Dame ans Bett der Hundertjährigen führte, flüsterte: «Pssst - sie schläft. Der Tag war etwas viel für sie?» «Ich bin extra aus London gekommen», sagte die Frau energisch. Und drückte Anne die Hand: «Ich bins, Lisbeth.»

Aber Anne blieb stumm. Sie hatte sich von dieser Welt verabschiedet. So wurde es zwischen den beiden Frauen Weihnachten wie einst: wortlos.

Denn es gab nichts mehr zu sagen.

Sonntag, 18. Dezember 2005