Wildsaumässiges

Wildschweine laufen einem nicht jeden Tag über den Weg. Tun sie nicht.
Okay. Ich könnte jetzt die Parallele zum Alltag ziehen? zu meiner nächsten Umgebung. Tu ich nicht. Der Witz gehört in die Mottenkiste.
Auf der kleinen Insel, wo ich eigentlich in Ruhe Weihnachtsgeschichten schreiben und herbstliche Rezepte ausprobieren sollte, sind Wildsäue immer ein Thema. Als grosse Plage. Oder in kleiner Salametti-Form. Aber auch als Ragout. Und ganz speziell als Braten (zwölf Stunden in Rotwein mit drei Kilos Dörrzwetschgen, Rosmarin und etwas Ingwer auf 120 Grad im Ofen).
Seit nun aber eine dieser wilden Säue Innocents Rasen zu Acker umgejätet hat, hat uns eine saumässige Mordslust im Griff. Nächtelang sitze ich mit einem Holzscheit bewaffnet vor dem Haus. Und will dem Feind Auge in Auge gegenübertreten. GESTERN WARS SO WEIT.
Mein fitter Vetter Tom wollte eben seine sechste Pizza reinhoovern, als sein Blick erstarrte. Stumm zeigte er auf das kleine Wäldchen, das zu unserm Haus führt. ZWISCHEN DEN BÄUMEN STAND DIE SAU. WILD ENTSCHLOSSEN.
«Es ist ein Männchen», flüsterte Tom.
«WAS IS...?», schraubte Innocent an den Ohren. «SPRECHT DEUTLICHER. WIR SIND HIER NICHT BEIM FERNSEHEN.»
Dann gelang der Sau das, was noch nie jemandem gelungen ist: Sie verschlug Innocent die Sprache. Elegant tänzelte sie zur Platte mit den Pizzazutaten. Kein Blick für uns. Tom schnappte sich seinen Fotoapparat. Und ging auf das Tier zu. «Ist er nicht allerliebst?», säuselte mein bodygebildeter Vetter. Und knipste die Batterien leer.
«DAS GIBT ES NICHT!», kriegte sich Innocent kaum ein. «DAS ARME TIER MUSS JA SCHRECKLICH HUNGRIG SEIN... WENN ES NICHT EINMAL VOR DIESEM MIESEN FERTIGTEIG HALTMACHT!»
«Wir nennen ihn Rolando», flüsterte ich.
Rolando liess den Pizzateig liegen, was bewies, dass er ein ganz ungewöhnliches Gourmetschwein war. Er konzentrierte sich vielmehr auf unsere gescheibelten Tomaten. Und die waren gartenfrisch.
Ich hatte mich sofort in Rolando verliebt. Seine Augen sind umwerfend? klein zwar. Aber intensiv. Und irgendwie auch naiv. In gewisser Weise erinnern sie an Bundesrat Leuenberger, wenn er zu den Strassen redet.
«Wir füttern ihn bis zur Jagdzeit durch. Dann schiessen wir ihn ab», gab Innocent den Tarif durch. Wie immer praktisch denkend. Als er sich vom Tisch erhob, piepsten seine Hörapparate. Und es scheint, dass Rolando auf diese Piepser allergisch ist (NICHT NUR ER). Jedenfalls schnappte er sich die letzte Tomate und jagte durch den Wald wieder davon.
«Du hast ihn mit deinen Mordsideen vertrieben», schaute ich anklagend zu Innocent. Der: «Ach? Rolando kommt wieder. Er ist noch jede Nacht gekommen. Schau um dich...!»
Tatsächlich ist rings um mich dunkler, mieser Acker? eine utopische Mondkraterlandschaft, die von Rolandos lieblicher Schnute aufgewühlt wurde. «Er hat uns immensen Schaden zugefügt», knurrte nun Innocent gallig. «Und DU fällst natürlich wieder auf ein paar naive Augen rein!»? «Ich esse nie mehr Wildsauschinken», gab ich schluchzend das Credo zur Nacht.
Und mein Vetter hysterisch. «Die Bilder sind sensationell. Er liebt es, fotografiert zu werden. Er hat das gewisse Lächeln, das schon Aeschbi gross gemacht hat.»
So hegte jeder andere Gefühle für die Wildsau. Denn auch die Wildsau ist das objektive Subjekt subjektiver Optik.
Rolando kam übrigens nicht mehr. Vielleicht hat er eine Familie gegründet. Oder er hängt irgendwo als Schinken.
Subjektiv betrachtet war Rolando saumässig. Objektiv: ein charmanter Kerl.
BEIDES BRINGT MIR DEN KAPUTTEN RASEN NICHT MEHR ZURÜCK.

Montag, 28. September 2009