Weisse Weihnacht

Anna zupfte am Grab das Rosenbouquet zurecht.
Und redete Tacheles mit ihm: «... einfach abzuhauen... mich alleine zurücklassen.» Willi war kerngesund gewesen. Eines Tages rief Willis Chef sie an: «Er ist auf seinem Bürosessel eingeschlafen? dieses Mal für immer.» Das hatte sarkastisch geklungen.
Nun gut? Willi war nicht gerade das, was man eine Lebensrakete hätte nennen können.
Er riskierte schon mal ein Nickerchen am Schreibtisch. Aber der unerwartete Tod des Buchhalters war dann doch für alle ein Schock.
Anna erhob sich. Und sah ein junges Ehepaar, das etwas weiter vorne bei den Kindergräbern ein goldfunkelndes Windrädchen neben das kleine Kreuz mit dem Engel darauf in den Boden steckte.
Sie kam immer nur am Samstag vor Weihnachten zum Grab. «Ich habe meinen Willi im Herzen? da ist er begraben. Und nicht auf diesem grossen Feld», entschuldigte sie jeweils ihre raren Friedhofsbesuche bei ihren Freundinnen.
Die junge Mutter hatte verweinte Augen.
Der Ehemann nahm sie in die Arme. Anna nickte beim Vorbeigehen. «Es war unsere Tochter», flüsterte die Frau. «Es war ein Verkehrsunfall. Drei bekiffte Jugendliche...»? «Das tut mir sehr leid...»? Anna versuchte ein Lächeln. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Und schaute zum Himmel: «Ich glaube, es wird eine weisse Weihnacht werden...» Die Frau lächelte.
«Isabelle wollte immer einmal verschneite Weihnacht erleben. Weisse Weihnacht war ihr grösster Wunsch. Sie hätte so gerne eine richtige Kinderweihnacht gehabt. Doch nie hat sie es erleben dürfen.»
Natürlich kam dann kein Schnee. Sondern der Heilige Abend wurde patschnass.
Anna feierte mit zwei verwitweten Freundinnen. Aber ihre Gedanken schweiften immer wieder an das Grab von Isabelle zurück. In den folgenden Jahren standen die jungen Eltern meistens schon beim kleinen Kreuz und dem goldenen Windrädchen, wenn Anna zu Willi ging.
Sie nickten ihr freundlich zu. Und da Anna nie richtig wusste, was es in solchen Situationen zu reden gibt, blieb sie beim Thema Wetter: «Es wird wohl auch dieses Jahr keine weisse Weihnacht werden...»
An einem der Adventssamstage sah dann Anna, dass die Frau alleine am Grab stand. Lotti weinte. «Was ist passiert?»
«Krebs», flüsterte die Frau. «Er ist jetzt bei Isabelle... und Sie werden es vielleicht nicht verstehen: Aber irgendwie tröstet es mich, mein Kind an Weihnachten nicht alleine zu wissen...» Anna nickte. Sie spürte einen fetten Klotz im Hals. Der Himmel schickte dicke Tropfen. Es war viel zu warm für Dezember. «Unser Platz ist dort hinten», zeigte Lotti auf eine frische Grabreihe.
«Ich werde Isabelle zu ihm betten lassen.» Ein Jahr später stand niemand mehr beim kleinen Kinderkreuz.
Mühsam erhob sie sich von Willis Grab.
Das Bücken bereitete ihr nun immer mehr Schwierigkeiten. Und plötzlich sah sie, wie etwas Goldenes durch die dürren Sträucher aufblitzte. Leise drehte sich das goldene Rädchen im Wind.
Anna ging nun zum Erwachsenengrab.
Der Name «Lotti...» war noch ganz frisch? der letzte von drei Namen. Anna weinte.
Sie ging zu Willis Grab. Holte die mitgebrachten Rosen. Und legte sie zum goldenen Windrädchen. Ihre Wangen spürten die warmen Tränen? und etwas, das eisig auf den heissen Backen schmolz. Anna schaute nach oben? Tausende von Flocken tanzten hier im Anthrazit. Für einen kurzen Augenblick öffnete sich der Himmel.
Die Sonne ergoss ihre Strahlen auf das goldene Windrädchen. Dann war alles wieder grau. Nur das Grab wurde leise mit Schnee bedeckt. Der Wind hatte aufgehört.
Und auf dem goldenen Windrad wuchs wie von Zauberhand drapiert ein weisser Schneekragen. Ein Mann ging vorbei. Er lüpfte den Hut: «Es wird dieses Jahr eine weisse Weihnacht...»? «Ja», nickte Anna, «eine Kinderweihnacht...»

Montag, 21. Dezember 2009