Warten am Heiligen Abend

Leo Müller sass neben der Empfangspforte der «Abendruhe».
Viele Alte sassen jeweils dort.
BEI DER PFORTE FAND DAS LEBEN STATT.
Am Heiligen Abend herrschte hier einige Aufregung. Die meisten der «Abendruhe»-Insassen wurden irgendwann abgeholt. Frühmorgens schon sassen sie dann frisch dauergewellt? das Altersheim hatte seinen eigenen Friseursalon? oder mit eng geknüpfter Krawatte auf den schmalen Stühlchen. Sie zeigten Fotos von Enkelkindern und Schwiegersöhnen herum. Und hatten Bündelchen mit Couverts, auf denen sie Namen gekritzelt hatten, in den Taschen: «Geld können sie immer gebrauchen. Es sind ja keine Kinder mehr...»
Vor einer Stunde war auch Frau Schmid abgeholt worden. Nun wartete Leo alleine. Er war sich nicht sicher, ob Walter kommen würde.
Walter kam nur alle zwei Jahre. Und Leos Gedächtnis hatte nachgelassen. War er letztes Jahr am Heiligen Abend in Zürich gewesen?
Sie telefonierten kaum. Leos Ohren liessen parallel zum Gedächtnis nach. Aus Zürich hörte er jeweils nur ein heftiges Rauschen. Leo gab dies natürlich nicht zu. Er redete einfach pausenlos auf den Apparat ein, um dann aufzuhängen.
Gestern noch hatte der Apparat in seiner Hose gezuckelt. Er erkannte die Nummer. Es war Walter gewesen. Walter rief stets vor Weihnachten an.
«Mein Sohn holt mich morgen ab», erklärte er Frau Ladowitsch, der Heimleiterin.
«Wie schön für Sie», lächelte diese.
Herr Stark und Frau Heini wurden nie abgeholt. Ihre Kinder? so hiess es? wohnten im Ausland. Letztes Jahr? oder war es vorletztes gewesen?? hatte er mit ihnen zusammen Heiligabend gefeiert. Das Altersheim hatte sich grosse Mühe gegeben. Festessen. Grosser Baum.
Ein paar Handschuhe als Geschenk? na ja, das Übliche. Und doch war er sich wie «ausgesetzt» vorgekommen, als dann die andern Bewohner heimkamen. Und mit ihren Erlebnissen am Familienbaum auftrumpften.
Als um acht Uhr abends Walter noch immer nicht erschienen war, kam Frau Ladowitsch: «Wollen Sie nicht mit uns essen? Vielleicht ist ihm etwas dazwischengekommen?»
«Nein», sagte Leo mürrisch. «NEIN!» Seine Hand fingerlte krampfhaft im Mantelsack herum, wo er den alten Josef, der ein Leben lang die Familienkrippe geschmückt hatte, für seinen Sohn bereithielt. Es war Zeit, den Josef und die Vergangenheit abzugeben? als Erinnerungsstück aus einer Zeit, als sie noch alle fröhlich Weihnachten gefeiert hatten.
Um halb neun Uhr abends wusste Leo, dass Walter nicht mehr kommen würde. Aber er wollte nicht zu den andern an den Tisch. JETZT NICHT.
Vier Stunden später fand ihn ein junges Pärchen, das von der Familienweihnacht nach Hause spazierte, auf der Bank im nahen Park. Zuerst dachten sie, der alte Mann schlafe. Die Frau tätschelte seine Hand. In der Hand hielt der Tote einen hölzernen Krippen-Josef.
Als Walter einige Wochen später die Möbel und Kleider seines Vaters abholte, lag der Josef auf einem Stapel Hemden. Walter nahm ihn kurz in die Finger. Lächelte seiner Frau zu: «Den hatten wir stets unter dem Baum... bei der Krippe.»
Er liess ihn im Altersheim zurück. Frau Ladowitsch stellte ihn zu den Preisen der jährlichen Sommertombola.
Nun steht der alte Josef irgendwo herum. Und hofft, am Heiligen Abend nicht vergessen zu werden...

Montag, 19. Dezember 2011