Vollglatze

Walti stand vor dem Badezimmerspiegel.
Was er sah, erschütterte ihn.
ER SAH GAR NICHTS.
Wo früher die schwarze Wellenpracht flutete und Hildi ihm jeweils nach ihrem gemeinsamen «Heute geht die Post ab»-Spiel genüsslich durchs Haar gefahren war («WOWWWW? MEIN LOCKENBRUMMI!»), da standen jetzt noch ein paar lahme Strähnchen ab.
Die Pracht von damals war dem Bild eines gerupften Huhns gewichen.
«MEIN GOTT!», flüsterte Walti geschockt.
«Hast du mich gerufen?», rief Hildi aus dem Schlafzimmer.
Typisch Hildi? hielt sich für Gott und wusste doch immer alles besser als ER.
«Ich putze die Zähne?», blaffte Walti zur Schlafzimmertüre.
«ZWISCHENRÄUME NICHT VERGESSEN!»? gab seine Frau das Bibelwort zum Tag durch.
Gebannt stierte Walti auf seinen Schädel. Zugegeben? Figaro Schnippel gab sich unendlich Mühe, die wenigen gebliebenen Haare auf dem fleischigen Ei einigermassen gerecht zu verteilen. AN DIESEN HAAREN SCHNIPPELTE SCHNIPPEL NIE. Sie waren quasi die Trägerbalken von Waltis Frisur. Und somit heilig. Mit der Zeit sind es immer weniger Trägerbalken geworden.
«Ich muss heute zum Frisör», rief Walti nun ins Schlafzimmer.
«Er soll dir den Nacken gut ausputzen», kam das göttliche Wort zurück.
Herr Schnippel gab sein Letztes. Aber schliesslich rang er weinerlich die Hände: «Ich kann Ihnen doch für diese zwölf letzten Haare nicht den vollen Preis verlangen, Herr Bitterli? aber Sie sehen ja selber, wie viel Arbeit es ist, diese wenigen Härchen sanft zu shampoonieren, trocken zu reiben, auseinander zu dividieren, zu sprayen und dann so zu platzieren, dass es zumindest nach gut drei Dutzend aussieht?»
Der Frisör senkte verschwörerisch seine Fistelstimme: «Wie stehen Sie zu Meister Propper, Herr Bitterli?»
«--- --- ---»
«? ich meine den Putzmann, aus der Reklame. Vollei. VOLLPFLÖTZE! Und doch sieht das Ganze sehr sexy aus, finden Sie nicht?»
«???????»
«? nicht dass Sie denken, ich würde mir etwas aus eierigen Glatzen machen, Herr Bitterli. Ich war immer der Mann, der bei vollem Haar und vollem Busen ins Vibrieren kam? haha. Sie verstehen?»
«?????»
«? aber ich könnte mir vorstellen, dass S i e mit Glatze und ohne Haar richtig heiss aussehen. Glatzen machen jünger. Sagen Sie ehrlich: Würden Sie Meister Propper 80 Jahre geben?»
Schnippel flüsterte jetzt verschwörerisch: «Und S i e haben die ideale Kopfform.»
Walti schaute im Coiffeurspiegel seinen Frisör leicht nervös an. «Aha? und was i s t die ideale Kopfform?»
«Das Ei, Herr Bitterli. Das glatte, gute Ei? ohne Einbuchtungen. Ohne Unebenheiten. Klare Linie, klare Form eben? die ist Voraussetzung. Sie ist bei Ihnen gegeben wie bei Herrn Propper von der Putzreklame auch!»
«Aha.»
«Ich weiss, es ist ein radikaler Schritt», flüsterte Schnippel nun, «aber wir sollten es wagen? haariger als jetzt kann das Resultat auch nicht werden.» UND DAS WURDE ES AUCH NICHT.
Fast eine Viertelstunde hat Schnippel die frische Glatze poliert. Eingecremt. Durchgewixt.
Auf der Strasse war es Walti, als würden die Leute hinter seinem Rücken kichern. Und drei Mal meinte er «Hallo Meister Propper» rufen zu hören.
Zu Hause hatte Hildi schon den Mittagstisch gedeckt. Sie warf einen Blick auf den Frisch­polierten.
Schüttelte den Kopf. Und wetterte. «Ich habe doch gesagt, er soll dir den Nacken gut ausputzen?»

Montag, 2. September 2013